Ausgewählte Artikel und Glossen

 

  Das Balkh-Krankenhaus in Masar-i-Scharif

  Teil 2 der Reportage "Intensivstation Afghanistan"

  

Von Armin H. Flesch,

veröffentlicht 2011 im Magazin 'Gesundheits-Journal', Medizinbeilage der Zeitungen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Frankfurter Neue Presse.

 

 

Camp Marmal, das größte Feldlager der Bundeswehr im Norden Afghanistans liegt etwa 25 Kilometer vom Zentrum der Provinzhauptstadt Masar-i-Scharif entfernt. Das Camp ist von einer kilometerlangen Lehmmauer umgeben, die nicht nur Sichtschutz gewährt und krankheitsübertragende Mücken abhält – die Mauer von Camp Marmal trennt Welten. Drinnen gibt es eine perfekt organisierte Kleinstadt mit 7500 Einwohnern, asphaltierten Straßen, betonierten Gehwegen und grau geschotterten Flächen, auf denen Fahrzeuge ordentlich in Reihe geparkt werden. Alle halten sich ans Tempolimit, das außerdem streng überwacht wird, und nirgends liegt Müll herum. Stattdessen gibt es sauberes Leitungswasser aus eigenen Brunnen, drei PX-Läden, eine deutsche Kirche, eine amerikanische Chappel für alle Religionen und eine afghanische Moschee. Kommt man jedoch zum doppelt bewachten und von Steinwällen geschützten Südtor, bietet sich direkt hinter der inneren, von ISAF-Soldaten besetzten Barriere ein komplett anderes Bild. Zunächst die afghanischen Wachen, „Afghan Guards“, deren blaugraue Uniformen einen deutlichen Hang zum Individualismus erkennen lassen. Dann, auf der anderen Seite der Landstraße, ein großer staubiger Parkplatz, auf dem Steinbrocken herumliegen und unzählige, meist ältere Lastwagen, Pickups und PKW wirr durcheinander stehen. Erst wer hier ankommt, ist wirklich in Afghanistan. Das Camp ist exterritoriales Europa.

 

Ich stehe dort, am Morgen des sechsten Oktober 2011 und suche meinen Fahrer, den ich nie zuvor gesehen und mit dem ich nur einmal kurz telefoniert habe. Mein afghanisches Handy, eine chinesische Nokia-Fälschung, für 30 US-Dollar auf dem „Masar-Market“ innerhalb des Camps gekauft und mit einer Karte fürs Roshan-Netz, Afghanistans größtem Mobilfunkanbieter, versehen, hat noch während meines ersten Gesprächs den Geist aufgegeben. Ich weiß nur soviel: Mein Fahrer heißt Farid*, spricht Englisch, wohnt in Masar-i-Scharif und will mich um elf Uhr vor dem Camp abholen. Es ist elf, zusammen mit einem Unteroffizier des Pressestabs, der mich mit seinem Wagen zum Tor gebracht hat, spähe ich nach draußen und versuche irgendwie Farid zu erkennen. Es ist ganz sinnlos. Nahezu jeder, den ich sehe, könnte es sein, und jeder hier wartet auf irgend jemanden. Nach einigen Minuten naht Rettung in Gestalt eines der Afghan Guards. Durch ein klobiges und reichlich ramponiertes Funkgerät gibt er den Namen meines Fahrers an einen zweiten Wachmann weiter, der drüben auf dem Parkplatz steht, ein Megaphon bei sich trägt und die Rolle des Ausrufers übernommen hat: „Faaarid … Faaarid … Faaarid …“ Was sich wie der Ruf des Muezzin anhört, führt zu sofortigem Erfolg. Ein Mann steigt aus einem silbernen Toyota-Geländewagen und kommt zum Tor. Es ist Farid. So finde ich meinen Fahrer und lerne meine erste Lektion über Afghanistan: Low tech ist zuverlässiger als high tech.

 

Wir fahren nach Masar-i-Scharif, das etwa 25 Kilometer vom Camp entfernt liegt. Nach wenigen Kilometern auf einer schmalen, zweispurigen Straße, die um den benachbarten Flughafen herumführt, biegen wir auf den Highway A 76 ein, der die Metropole der Balkh-Provinz mit dem 425 Kilometer entfernten Kabul verbindet. Schnurgerade geht es in die Stadt, deren Weichbild durch ein weißblau bemaltes hohes Tor markiert ist. Obenauf die Insignien der staatlichen Macht: in der Mitte das Staatswappen der Islamischen Republik Afghanistan, rechts das Konterfei des 2001 ermordeten Nationalhelden Ahmad Schah Massoud,links dasjenige des Gouverneurs der Balkh-Provinz, Atta Mohammed Noor. Das Portrait des Staatspräsidenten Karsai fehlt, was keineswegs ein Zufall ist. Afghanistan-Lektion Nummer zwei, die sich im Lauf des Tages noch mehrfach bestätigen wird: Wir sind in Masar-i-Scharif – Kabul ist weit weg.

 

Je mehr wir uns dem Stadtzentrum nähern, desto stärker belebt sich die Szene, desto dichter wird der Verkehr. Vor allem Männer sind auf den etwa zehn Meter breiten Sand- und Geröllstreifen neben dem Fahrdamm unterwegs, meist in der landesüblichen Bekleidung mit weiter weißer oder grauer Hose, halbrund geschnittenem, knielangem Hemd und einer schwarzen Weste. Als Kopfbedeckung dienen der für Nordafghanistan übliche Pakol, eine runde Mütze aus grober, ungefärbter Wolle, die einem Barett ähnelt, einfache zu Turbanen geschlungene Tücher oder die weißen, gehäkelten Scheitelkäppchen der Muslime.

 

Die zunächst nur sporadische Bebauung besteht überwiegend aus abenteuerlichen kleinen Häusern aus Wellblech, Lehm und Zement, die allen Gesetzen der Statik zu trotzen scheinen. Davor sitzen Männer, vereinzelt oder in Gruppen, trinken Tee und treiben Straßenhandel, der von Limonade und Wasser über Fische, die auf mit feuchten Tüchern bespannten Holzbrettern liegen, bis zu Alufelgen und alten Waschmaschinen reicht. Straßenszenen, wie sie sich so oder ähnlich bereits den Rucksacktouristen der Sechziger- und Siebzigerjahre geboten haben, als Afghanistan noch ein friedliches Land war. Viele Männer fahren auf schwarzen, altertümlichen Fahrrädern mit doppeltem Oberrohr, die aussehen, als seien sie hundert Jahre alt. Sie stammen aber, wie ich von Farid erfahre, aus China und sind neu für umgerechnet 25 Euro zu haben.

 

  Afghanistan gleicht einer geologischen Formation

Das neben unzähligen weiß-gelb lackierten Toyota-Taxis vorherrschende Verkehrsmittel sind motorisierte Dreiräder mit offener Pritsche, manchmal auch Eselskarren. Mit ihnen wird alles transportiert, was zum Tragen zu schwer ist, oft sitzen auch mehrere Fahrgäste zwischen der Ladung. Zu meiner Überraschung tragen die meisten dieser Fahrzeuge auf den lackierten Holzplanken der Ladefläche neben dem Namen ihres Besitzers auch dessen Mobilnummer, oft sogar eine E-Mail-Adresse. Dritte Lektion: Afghanistan gleicht einer geologischen Formation. Die Gegenwart ist hier kein Punkt auf der Zeitachse, sondern eine Vertikale, die von der fernsten Vergangenheit bis ins 21. Jahrhundert reicht und Kulturzeugnisse unterschiedlichster Epochen mühelos miteinander verbindet.

 

Richtung Zentrum erheben sich hinter der dichter werdenden Front einfachster Häuser mit oftmals nur notdürftig ausgebesserten Kriegsschäden vereinzelte Neubauten aus Stahl, Beton und farbig verspiegeltem Glas. Masar-i-Scharif, erzählt Farid, ist die boom town Afghanistans, hier herrscht relative Sicherheit, das zieht die Investoren an. Von der Entwicklung der Stadt kündet auch eine Verkehrsampel, die entlang der Magistrale versucht, den immer dichter werdenden Verkehr zu bändigen. Es sei die beste Ampelanlage in ganz Afghanistan, bemerkt mein Fahrer nicht ohne Stolz: „Nur in Kabul gibt es noch eine, aber die ist meistens kaputt.“

 

Ziel unserer Fahrt ist das größte Zivilkrankenhaus im Norden Afghanistans, das 1947 gegründete Balkh-Hospital in Masar-i-Scharif. Im Sommer 2006 wurde das alte, aus den Sechzigerjahren stammende Hauptgebäude durch einen Brand vollständig zerstört und damit die ohnehin prekäre Situation im Gesundheitswesen der Region weiter verschärft. Generalmajor Markus Kneip, 2006 erstmals für einige Monate ISAF-Regionalkommandeur Nord, erinnert sich sechs Jahre später: „Als ich damals nach Masar-i-Scharif kam, fand ich drei Krankenhäuser vor: zwei afghanische – das zivile Balkh- und das ANA-Militärhospital –, sowie neben dem alten Flughafen von Masar ein humanitäres jordanisches Feldlazarett zur medizinischen Erstversorgung. Diese jordanische Krankenstation, in der es kostenlose medizinische Versorgung gab, war vollkommen überlaufen. Ich habe heute noch vor Augen, wie dort Tag für Tag unzählige Menschen durch den Staub zu diesem Lazarett gingen. Die Schlange war Hunderte von Metern lang. Im zweiten, dem afghanischen Militärhospital wurden neben den Soldaten der ANA [Afghanische National-Armee] nur hochrangige Zivilisten aufgenommen, keine normalen Bürger. Für die gab es als Drittes das alte Balkh-Hospital, das aber einen vergleichsweise niedrigen Standard hatte. Das war die Ausgangssituation 2006 – dann kam der Brand.“

 

Das nächstgelegene, nach afghanischen Verhältnissen gute Zivilkrankenhaus befand sich im 425 Kilometer entfernten Kabul, für die allermeisten Patienten unerreichbar. Die Zivilbevölkerung drängte nun in die übriggebliebenen Häuser sowie ins zunächst norwegisch geführte Feldlazarett in Camp Marmal, das sich 2006 noch im Aufbau befand. Weder das Lazarett, dessen eigentlicher Auftrag die medizinische Versorgung der ISAF-Truppen im Norden Afghanistans ist, noch die Jordanier und das ANA-Hospital waren in der Lage, den gewaltigen Andrang zu bewältigen. Markus Kneip: „Mir war sehr schnell klar, dass wir für die afghanische Zivilbevölkerung ein qualitatives Gegenstück zu unserem eigenen Lazarett schaffen müßten. Zunächst bauten wir vor der ausgebrannten Ruine ein Notlazarett aus Zelten und Containern auf. Dann begannen wir mit unserer Initiative zum Wiederaufbau des Balkh-Hospitals, die aus einem zarten Pflänzchen schließlich zu einem riesigen Bauprojekt wurde.“

 

Vom damaligen deutschen Botschafter in Kabul, Hans-Ulrich Seidt, über das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam und die Ministerialbürokratie in Berlin bis zu Atta Mohammed Noor, den mächtigen Gouverneur der Balkh-Provinz, und Mirwais Rabi, seinen Gesundheitsdirektor – mit Beharrlichkeit und diplomatischem Geschick band Kneip alle, die das Wiederaufbauprojekt befördern oder behindern konnten, in seine Bemühungen mit ein: „Mir war immer wichtig zu erklären, dass ISAF und Bundeswehr hier im Land eine weitergehende Verantwortung haben, als immer nur auf die eigene Flagge zu schauen und sich selbst möglichst gut zu schützen.“

 

  Abwarten und Tee trinken

Knapp fünf Jahre später, im Oktober 2011, stehen wir mit Farids silberfarbenem Landcruiser vor der Zufahrt zum Klinikgelände. Ein Afghan Guard erkundigt sich nach unseren Absichten, wirft einen flüchtigen Blick auf meinen Presseausweis und öffnet die ehemals blau-weiß lackierte Schranke. Nichts, was einem deutschen Krankenhaus entfernt ähnlich sähe, ist zunächst in Sicht. Stattdessen kleine Häuschen und Pavillons, die ältesten aus den Vierziger­jahren, in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Dazwischen haben sich unzählige Patienten, die auf eine Behandlung warten, auf der bloßen Erde niedergelassen. Menschen kommen oft von weither ins Balkh Hospital, haben Kissen, Decken und Essen dabei und campieren dann auf dem Klinikgelände unter freiem Himmel. Einige offenbar für längere Zeit, wie frischgewaschene Wäsche vermuten läßt, die an Stricken zwischen den Bäumen des Gartens zum Trocknen aufgehängt wurde.

 

Hier wartet auch der dreijährige Amar* auf seine Behandlung. Er hat seit Tagen schweren Durchfall, die Ärzte wissen noch nicht, woran es liegt und was man tun kann. Geduldig und ohne zu weinen sitzt er auf dem Schoß seines Vaters. Die beiden haben sich eine Wandnische ausgepolstert und den in Afghanistan unvermeidlichen Tee gekocht. Ein Bild wie aus einer Karawanserei, Schnappschuß romantisch gestimmter Asienreisender, wenn nicht die Infusionsnadel in Amars kleinem Handgelenk wäre. Hier im Freien werden Vater und Sohn die nächsten Tage verbringen, abwarten und Tee trinken. Zur Zeit ist es warm in Afghanistan, 27 Grad Celsius und trocken, aber im Winter sind am Fuße des Marmal-Gebirges Temperaturen von minus 20 Grad keine Seltenheit. Wo warten die Kranken von Masar dann?

 

Farid bringt mich zunächst zu Navid Farnaz*, einem Mitarbeiter der Krankenhausverwaltung, der mir ein Interview mit dem Krankenhausdirektor ermöglichen soll. Sein Büro ist klein, etwa drei auf vier Meter. Im Raum herrscht Dämmerlicht, die Fenster sind zum Schutz vor der Mittagssonne mit Tüchern verhängt. Ein dunkler Schreibtisch steht darin, dessen Oberfläche fast völlig von einem altertümlichen Computermonitor eingenommen wird, außerdem eine ausladende Polstergarnitur und ein niedriger Couchtisch. Alle Möbel haben wie das Gebäude ihre beste Zeit lange hinter sich. Wir werden sehr freundlich begrüßt, ein Bürodiener reicht Tee in kleinen Gläsern. Farnaz selbst trinkt seinen Tee lieber aus dem XL-Pappbecher einer amerikanischen Kaffeehauskette, der wie die Freiheitsstatue zwischen Tastatur und Telefon emporragt. Der Anblick erinnert mich an den Kultstatus, den mit westlicher Werbung bedruckte Plastiktüten einst in der DDR genossen. Die Attraktivität des Westens und seiner Werte – nicht nur seiner Konsumartikel – ist auch am Hindukusch groß. Ob sie tragen wird, wenn es für Afghanistan gilt, die Erfolge der letzten zehn Jahre nach einem Abzug der ISAF-Truppen zu bewahren und weiter zu entwickeln?

 

Navid Farnaz telefoniert kurz und teilt uns dann mit, wir könnten sofort zum Direktor kommen, Herr Dr. Rabi stehe für ein Interview zur Verfügung. Wir verlassen den Pavillon und kommen nach wenigen Metern zu einem zweiten, vor dem ein dunkelgrüner Pickup mit Blaulicht und mehrere Afghan Guards stehen. Das Gebäude, das wir nun betreten, ist nicht neuer als alles, was ich bislang auf dem Klinikgelände gesehen habe, aber es ist in deutlich besserem Zustand. Im hüfthoch mit Holz vertäfelten Foyer sitzt ein Empfangsmitarbeiter hinter einem hohen Tresen. Eine große Karte der Balkh-Provinz bedeckt fast die ganze Wand. Nach rechts geht ein dunkler Gang ab, vor der ersten Tür sitzen zwei weitere, mit Kalschnikow-Schnellfeuergewehren bewaffnete Afghan Guards, die sich mir und meiner Kamera unaufgefordert als Motiv darbieten. Die stramm militärische Haltung, die sie dabei einnehmen, bekommt durch ihr breites Grinsen und die demonstrative Übertreibung einen Einschlag ins Parodistische.

 

Erneut ein kurzes Telefonat, dann dürfen wir das gut bewachte Büro von Dr. Mirwais Rabi betreten, ehemaliger Direktor des Balkh-Krankenhauses und nun Direktor der zivilen Gesundheitsbehörde der Balkh-Provinz. Der quadratische Raum, in dem eine Zweizimmer­wohnung Platz hätte, ist ebenfalls bis auf Hüfthöhe mit dunklem Holz getäfelt. In der rechten hinteren Ecke steht ein ausladender Schreibtisch, dahinter die afghanische Staatsflagge. In den drei übrigen Ecken steht jeweils eine nagelneue graulederne Polstergarnitur mit Sofa, Tisch und zwei Sesseln, dazwischen viel freier Raum. Eine große, gerahmte Abbildung des neuen Krankenhauses ziert eine der Wände, über der Tür hängt eine in Kupfer getriebene Sure des Koran. Dies könnte das Büro eines afghanischen Ministers sein, und Dr. Rabi hätte vermut­lich nichts dagegen einzuwenden.

 

Nach kurzer Begrüßung nehmen wir auf einer der Polstergarnituren Platz. Rabi erzählt uns die Geschichte von Brand und Wiederaufbau und nennt Zahlen zur Größe des neuen Hospitals, dessen Bau kurz vor dem Abschluß steht. Ein Problem allerdings gebe es: die mangelnde Ausstattung. Das japananische Kaiserreich hatte sich Anfang 2001 zur Lieferung der Innenausstattung verpflichtet, doch das war 14 Tage vor dem Tsunami. Seither gehen die Uhren in Nippon langsamer, und der zeitliche Abstand zwischen der Fertigstellung des neuen Krankenhauses und ersten Lieferungen aus Japan wird immer größer. Vor Ende 2012 sei kaum mit neuer Ausstattung zu rechnen, befürchtet Rabi. Was denn am nötigsten fehle? „Betten,“ antwortet er, „wir brauchen dringend 300 Krankenhausbetten.“ Die Kranken von Masar-i-Scharif werden wohl noch längere Zeit auf dem Boden liegen müssen, auch im neuen Hospital.

 

* Markierte Namen wurden zum Schutz der genannten Personen vom Autor geändert.

 

 

Anmerkung des Autors:

 

2012 flog ich erneut nach Afghanistan, diesmal mit Vertretern der WHO auch in die Hauptstadt Kabul, wo ich die katastrophalen Zustände der dortigen Kliniken in Augenschein nehmen konnte.

 

2013 war ich zum drittenmal in Masar-i-Scharif. Mit Unterstützung der Unternehmen ASKLEPIOS und MANGAL TRANSPORT & SHIPPING sowie Dank der Hilfe meines treuen Freundes Dr. Johannes zu Eltz war es mir gelungen, eine Lieferung von 150 Krankenhausbetten inklusive abwaschbarer Matratzen ins Balkh-Hospital zu bringen.

 

Der Vormarsch der Taliban seither und schließlich der Abzug aller westlichen Truppen im Jahr 2021 werden weitere Reisen vermutlich auf lange Zeit unmöglich machen.

 

 


 

   Linie 64, Paquetstraße

   Bericht einer Lebensreise 

Von Armin H. Flesch,

veröffentlicht im Magazin des Frankfurter Presseclubs

 

 

Ein Mann in mittleren Jahren besteigt einen Bus der Frankfurter Linie 32 und wendet sich hilfesuchend an den Busfahrer: „Sache Se mal, halte Se auch in der Paketstraase?” Fahrer: „Paket-Straase? Kenn isch net. Wo soll dann die sein?” – „Irgendwo da drübbe,“ erwidert der Fahrgast und zeigt mit halb angewinkeltem rechtem Arm nach vorn halbrechts, in die Tiefe des Frankfurter Raums. „Da iss ’n Aldi an der Ecke.” – „Aah-ja, des iss im Dornbusch. Nein, da fahr isch net hin. Da müsse Se umschdeische in die 64.” Gehorsam steigt der Fahrgast wieder aus, die pneumatische Tür schließt sich mit dumpfem Zischen.

 

Ihn hätte sie amüsiert, diese Suche nach der ‚Paket’-Straße. Ihrem Namensgeber wäre der kleine Vorfall bestimmt in Erinnerung geblieben, und wahrscheinlich hätte er ihn verarbeitet: „Vielleicht,“ so schrieb er vor Zeiten, „stammen die ersten Ansätze zur sorgfältigen Reisebeschreibung aus einem Gefuhl fur die Gleichwertigkeit der nebensächlichen Dinge mit den Größten.“ Und mit Reisebeschreibungen kannte er sich aus, der gelernte Handschuhmacher, Journalist, Weltreisende, Romancier, Dramatiker, Dichter, Diplomat, promovierte Volkswirtschaftler und Spezialist für das moderne Verkehrs-, Ausstellungs- und Messewesen: Alfons Paquet. Mit Ausnahme seines Zeitgenossen Egon Erwin Kisch war kaum ein Autor deutscher Zunge häufiger, weiter und produktiver unterwegs als Paquet.

 

Dabei hätte sein Leben eher in den ruhigen und engen Bahnen einer Handwerker- und Händlerexistenz verlaufen sollen: „Meine Eltern gingen den schmalen Weg der ehrsamen kleinbürgerlichen Geschäftsleute, hinter denen noch ein Handwerk steht; ich brauchte nichts, als ihnen zu folgen. Aber das war in der Stadt, die sie zum Wohnort gewählt hatten, nicht möglich, denn diese Stadt heißt Wiesbaden.“ Dort, in einem Haus in der Langgasse, kam Alfons Paquet am 26. Januar 1881 als Sohn eines Handschuhmachers zur Welt. Für eine schöne Kindheit war die liebliche Landschaft um Wiesbaden der rechte Ort, erinnert er sich später, doch schon dem Heranwachsenden, „dem Menschen, der hier wachsen muß, fehlt zu sehr der Alltag.“ Sein Vater, der ihn am liebsten als Nachfolger im eigenen Geschäft sähe, muß das gespürt haben. Er nimmt den Sohn mit 15 Jahren von der Schule und schickt ihn zur Ausbildung nach London; hier soll er die englische Sprache und den Kaufmannsberuf erlernen.

 

Doch statt im Tuchgeschäft seines Onkels zu arbeiten, läßt sich der Fünfzehnjährige durch die Weltstadt treiben: „Jeden Morgen lockte mich die endlose Stadt auf den selben Weg nach Chancery Lane, jeden Mittag der Themsedamm, jeden Abend die Bibliothek mit ihren livrierten Dienern, ihren Lesepulten, ihren Gänsekielen, und dann der abenteuerliche Heimweg durch eine von Fischbratereien und Märkten erfüllte, wie von Fackellicht beleuchtete Straße hinter den wild daherjagenden vier Pferden der Trambahn. Als mich die Eltern an den Weihnachtsbaum zurückriefen, war ich den vier Wänden so fremd geworden, daß meiner Mutter die Tränen aus den Augen stürzten.“ Die Eltern versuchen ihn in die vorbestimmte Bahn zurückzuholen. Er muß das Handwerk des Vaters lernen, wird Handschuhmacher und später Volontär in einem Herrenmodengeschäft.

 

An all dem hat Paquet jedoch nicht das geringste Interesse und wandert, kaum hat er etwas Geld gespart, für einige Wochen durch Süddeutschland und die Schweiz. Nebenbei liest er, was ihm unter die Finger kommt, verfaßt Dramenbruchstücke und philosophische Aufsätze, Erzählungen, Lieder und Gedichte. Einige davon werden veröffentlicht, bringen erste Anerkennung, Preise und Selbstsicherheit. Paquet wagt den Absprung nach Berlin, kommt in finanzielle Schwierigkeiten, wird obdachlos, beantwortet ein Inserat und wird endlich, mit 20 Jahren, Lokalredakteur der Mühlhäuser Zeitung in Thüringen. Der Knoten ist geplatzt, nun geht es Schlag auf Schlag: In Köln erscheint sein erster Erzählungsband, der Schriftsteller Wilhelm Schäfer macht ihn zum Redaktionsgehilfen der Kulturzeitschrift „Die Rheinlande“, und für die Düsseldorfer Industrieausstellung des Jahres 1902 leitet Paquet die Redaktion des Ausstellungsblattes. Das bringt mehr Geld als er zum Leben braucht und gibt ihm die Freiheit, erneut auf Wanderschaft zu gehen.

 

Ein Semester Volkswirtschaft an der Universität Heidelberg folgt, dann zieht es ihn endgültig in die Ferne – ohne ein Wort Russisch zu können, reist der 22jährige Alfons Paquet 1903 nach Sibirien: „Die Ostchinesische Eisenbahn war eben fertiggeworden, ich fuhr hin, um sie als einer der ersten zu beschreiben. Ich kam bis an den Rand des Stillen Ozeans und kehrte aus einigen Abenteuern nach Heidelberg zurück. Ich konnte das Studium fortsetzen und blieb von nun an immer ein wenig von dem, was ich dort draußen hatte sein müssen, bereit zu jedem Aufbruch.“ Seine erste Reise nach den U.S.A. muß er bereits nicht mehr aus Ersparnissen finanzieren. Die Wirtschaft ist auf den scharfen, „vogeläugigen“ Beobachter aufmerksam geworden und schickt ihn 1904 als Korrespondenten zur Weltausstellung nach St. Louis. Von dort durchstreift er die Vereinigten Staaten, schreibt Reportagen und sammelt kistenweise Bücher für Wilhelm Mertons Frankfurter soziale Stiftungen.

 

Bereits im Herbst sitzt Paquet wieder im Hörsaal, diesmal bei dem Ökonomen Lujo Brentano in München. Im selben Jahr beginnt seine Tätigkeit für die Frankfurter Zeitung, der er bis zu ihrem Verbot im August 1943 verbunden bleiben wird. Kaum ein Jahr hält es ihn in München, dann bricht er nach Anatolien auf, fährt mit der Bagdad-Bahn, reitet übers Taurus-Gebirge und will Jerusalem sehen. Vorerst kommt er nur bis Syrien und muß schwer krank zurück nach Deutschland. Er bleibt zwei Jahre, beendet sein volkswirtschaftliches Studium in Jena und promoviert 1907 über Das Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft. Im Jahr darauf ist er schon wieder in Sibirien, als Korrespondent der Frankfurter Zeitung zieht Paquet mit einer Karawane durch die Mongolei bis nach China. Zurück in Deutschland heiratet er 1911 die Frankfurter Malerin Marie-Henriette Steinhausen, mit der er in den kommenden acht Jahren sechs Kinder bekommt. Doch auch das Reisen geht weiter; 1910 ist er zum dritten Mal in Sibirien, durchquert China und gelangt bis nach Japan.

 

Auf all seinen Reisen, während, dazwischen und danach schreibt und schreibt er ohne Unterlaß: Jedes Jahr erscheinen neue Bände mit Gedichten, Erzählungen, Romanen und immer wieder Reiseberichten. 1913 erreicht er endlich Jerusalem, sein „Gegen-London“, veröffentlicht zwei Jahre später den Reisebericht In Palästina und ergreift als Nichtjude Partei für den Zionismus und die Gründung eines jüdischen Staates.

 

Nach seiner Rückkehr ziehen die Paquets nach Oberursel, wo sie im August 1914 den Kriegsausbruch erleben. Im Gegensatz zu vielen seiner Schriftstellerkollegen zählt Alfons Paquet keineswegs zu den kriegsbegeisterten Hurra-Patrioten, vielmehr glaubt er an die Zukunft eines vereinigten Europas. Er erkennt zugleich, daß dies mit einem überstarken Deutschen Reich in seiner Mitte nur bedingt möglich wäre: „Das ist sicher: Nur durch ein führendes oder ein zertrümmertes Deutschland wird einmal der europäische Gedanke wahr werden.“

 

1916 schickt ihn die Frankfurter Zeitung als Korrespondenten ins neutrale Schweden, wo er an geheimen Friedensverhandlungen der deutschen Regierung mit Rußland teilnimmt. Kurz vor Kriegsende wird Paquet, der mittlerweile fließend Russisch spricht, Presseattaché der Kaiserlichen Diplomatischen Mission in Moskau und gerät dort in den Strudel der Russischen Oktoberrevolution, über die er zwei Bücher schreibt: Im kommunistischen Rußland und Im Geiste der russischen Revolution. Seinen eigenen Standpunkt zum Kommunismus formuliert er in einem Brief an Egon Erwin Kisch: „Für den Parteikommunismus habe ich Sympathien, weil er [...] sich grob und ohne nach den Nervengespinsten einer bequem gewordenen und überheblichen Gesellschaft zu fragen, in die problematische Situation mit klaren Forderungen und Drohungen, die etwas Prophetisches haben, hineinschiebt. Wenn es diese Bewegung nicht gäbe, so könnte man an der Möglichkeit einer großen Wiederherstellung verzweifeln.“

 

Entsprechend engagiert er sich in der Internationalen Arbeiterhilfe, die der hungernden Bevölkerung Rußlands hilft. Ebenso schreibt er revolutionäre Theaterstücke wie Fahne (1924) und Sturmflut (1926), die von Erwin Piscator mit großem Erfolg an der Berliner Volksbühne aufgeführt werden. Der KPD tritt Alfons Paquet dennoch nicht bei: „Da aber die kommunistische Partei [...] den Gedanken der persönlichen Freiheit, der freien Bewegung und der Verfügung des Einzelnen über sich nicht in ihre Ideologie einbezieht und als eine feindliche Ideologie fanatisch bekämpft, so würde ich mich unter ihrer Disziplin nicht bewegen können.“

 

Ein Leben ohne Bewegungsfreiheit wäre für Alfons Paquet unvorstellbar, auch wenn ab Mitte der Zwanzigerjahre die Reisen seltener, die öffentlichen Ämter und Verpflichtungen des nun bekannten und geehrten Schriftstellers mehr werden. Seit 1918 wohnt er mit seiner Familie in Frankfurt, wohin er nun von jeder seiner Reisen zurückkehrt: „Ich mußte viele Städte gesehen haben, bis ich endlich in Peking und Athen glücklich war. Wenn ich aber jetzt von Heimat spreche,“ schreibt er 1925, „meine ich Frankfurt.“ 1928 beruft ihn die Stadt zum Sekretär des neugeschaffenen Goethepreises, 1930 wird er zum Vorsitzenden des Bundes Rheinischer Dichter gewählt, den er selbst gründen half. Zwei Jahre später nimmt Preußische Akademie der Künste, zusammen mit Gottfried Benn, Sektion Dichtkunst auf. Mit 51 Jahren steht Alfons Paquet im
seines Erfolges – lange währen wird es nicht. Wenige Monate später, Hindenburg hat den böhmischen Gefreiten zum Reichskanzler ernannt, beeilt sich Gottfried Benn, im Namen der Akademie eine Ergebenheitsadresse an den neuen Herrn zu formulieren.

 

Alfons Paquet verweigert, ebenso wie Thomas Mann, Ricarda Huch und andere, am 22. März seine Unterschrift und wird postwendend ausgeschlossen. Die Stadt Frankfurt am Main entläßt ihn aus seiner Funktion im Kuratorium des Goethe-Preises und der Bund Rheinischer Dichter löst sich sang- und klanglos auf. Am 10. Mai brennen auf dem Römerberg auch Paquets Bücher, neue kann er kaum noch veröffentlichen, und in der Frankfurter Zeitung erscheinen die Artikel des berühmten Autors fortan unter Pseudonym. 1935, auf einer Reise nach Schweden, wird er vorübergehend von der Gestapo verhaftet, weigert sich aber gegen den Rat seiner schwedischen Freunde, Deutschland für immer zu verlassen. Seine letzte große Reise führt ihn 1937 nach Amerika. In Philadelphia besucht er die Weltkonferenz der Quäker, denen er seit 1933 angehört, doch auch diesmal kehrt er nach Frankfurt zurück. Alfons Paquet will bleiben und, diesmal im eigenen Lande, Beobachter sein, wie er es immer war. Wohl ahnt er, daß noch Zeugen gebraucht werden.

 

So erlebt er am 19. Oktober 1941 die erste große Judendeportation in Frankfurt am Main: „Ich habe gestern so bedrückendes erlebt, daß ich noch ganz krank bin. Als ich am Sonntagmorgen durch die Stadt kam, sah ich an der Hauptwache eine kleine schwarzgekleidete Jüdin, mit einer Plaidrolle in der Hand, begleitet von zwei goldbraun Gekleideten, auf die Trambahn warten, kurz darauf vernahm ich, daß eine größere Aktion im Gange sei, hörte von Einzelheiten, besuchte Bekannte in einem Hause, das in voller Aufregung war, sah zurückkehrend an derselben Haltestelle wie vorhin abermals eine solche, fast verlegene Eskorte für zwei gut gekleidete, fast siebzigjährige Leute, der alte Herr trug einen Überzieher und einen Wintermantel - mit dem gelben Stern - über dem Arm, an den Füßen Galoschen, die alte Frau einen offenen Korb, aus dem die Thermosflasche und allerlei Reisezeug herausschaute. So in kleinen Gruppen, in Zügen und Trupps wurden den ganzen Tag die Leute zur Großmarkthalle gebracht. Das seltsame Gebäude, in weitem Kreise abgesperrt, lag grau da im dünnen Regen. An neugierigen Lungernden vorbei ging die trostlose Wanderung der mit ihren Bündeln, Rucksäcken, Koffern Beladenen, man stellte sie am Rand des Platzes vor einen Schuppen, der an der Seite die große weiße Aufschrift trug SCHÜTZT DIE TIERE. Das Gepäck wurde abgestellt und anscheinend nochmals durchsucht wie in einer Zollstation unter freiem Himmel, ehe es in das große Gebäude weiterging. Am erschreckendsten aber war die Stumpfheit und der Hohn der Menschen. Es waren kleine Szenen, wie sie Goya gezeichnet hat. So hat Daumier die Menschen gesehen in ihrer groben wuchtigen Tierheit.“

 

Am 31. August 1943 stellt die Frankfurter Zeitung auf persönlichen Befehl Hitlers ihr Erscheinen ein, was für Paquet einem Berufsverbot gleichkommt. Im selben Jahr fällt sein jüngster Sohn an der Ostfront und das alte Frankfurt, seine geliebte Stadt und Wahlheimat, versinkt in Schutt. In dem Wunsch, später, nach dem Kriege, etwas zum Wiederaufbau beizutragen, vermacht er spontan der Stadt seine umfangreiche Bibliothek. Daß auch sie den Bomben zum Opfer fallen wird, muß er nicht mehr erleben: Am 8. Februar 1944 erleidet er während eines Luftangriffs im Keller seines Hauses einen Herzinfarkt. Alfons Paquet stirbt an gebrochenem Herzen. Als ein Jahr später der Krieg zu Ende geht, haben die meisten seiner Landsleute ihn gründlich vergessen. Zeugen sind furs erste unerwünscht.

  


   

 

 
 

  Le roi des indiscrets

  Der Photograph Erich Salomon

Von Armin H. Flesch,

veröffentlicht im Magazin des Frankfurter Presseclubs

 

 

Erich Salomon war der berühmteste Pressephotograph seiner Zeit. Am liebsten machte er seine Aufnahmen, die weltweit gedruckt wurden, dort, wo es grundsätzlich verboten und nie zuvor photographiert worden war. Ausgestattet mit tadellosen Manieren, vielsprachiger Weltläufigkeit, stets angemessener Garderobe und dem notwendigen Maß an Unverfrorenheit überwand der promovierte Jurist einfache Türhüter ebenso wie Minister und Präsidenten: „Wenn man vor der Tür eines Verhandlungszimmers steht und die dafür zuständige Persönlichkeit darum bittet, hineingelassen zu werden, so fällt es dieser nicht schwer, die Bitte mit der erforderlichen Begründung abzulehnen. Ist man aber schon vor Beginn der Verhandlung in dem betreffenden Raum, so bedeutet die Aufforderung, den Raum wieder zu verlassen, für die dafür zuständige Person einen viel größeren psychologischen Kraftaufwand.“ Salomon begründete mit seinen Reportagen aus Gerichts- und Plenarsälen, von internationalen Konferenzen und Banketten den modernen Bildjournalismus, er erfand sogar das Wort. Seine Karriere begann eher zufällig, war steil und endete früh. Danach war er nur noch der „Jude Salomon“ – am 7. Juli 1944 wurde er in Auschwitz ermordet.

 

  Ein junger Herr aus gutem Hause  

Am 28. April 1886 kommt Erich Franz Emil Salomon als viertes von fünf Kindern des Bankiers und Börsenmaklers Emil Salomon in Berlin zur Welt. Leopold Sonnemann, der Gründer der Frankfurter Zeitung, ist sein Großonkel. Die Salomons sind wohlhabend, man wohnt im vornehmen Berliner Westen und besitzt am Teltower See ein Sommerhaus. Die Kinder können sich bei der Berufswahl Zeit lassen, Erich hospitiert neben der Schulzeit bei einem Tischler, später sammelt er Schmetterlinge und will Biologie studieren. 1909, nach dem plötzlichen Tod seines Vaters, schreibt er sich dann für ein Ingenieurstudium ein, schließlich studiert er Jura und promoviert 1913 über „Ziel und Fassung der Grundpfandklage“. Seit 1912 ist er mit seiner Großcousine Maggy Schüler verheiratet, die am 31. Juli 1913 ihren erster Sohn Otto zur Welt bringt. Das Leben der jungen Familie könnte nun in den sicheren und ruhigen Bahnen eines wohlhabenden Berliner Rechtsanwalts der Kaiserzeit verlaufen, doch zwölf Monate später bricht der Erste Weltkrieg aus. Erich Salomon wird im August 1914 eingezogen, gerät bereits im September in französische Kriegsgefangenschaft und kehrt erst 1919 nach Berlin zurück.

 

   Taxifahrt mit Rechtsberatung

Nachdem sich sein Vermögen von ursprünglich einer Million Goldmark durch Kriegsfolgen und Inflation weitgehend in Rauch aufgelöst hat, versucht Erich Salomon, dessen Frau erneut schwanger wird, sein Glück abwechselnd als Börsenmakler, Repräsentant einer Bank und Teilhaber einer Klavierfabrik, die jedoch bald pleite macht. 1924 verkauft er das Teltower Sommerhaus und gründet ein Taxiunternehmen. Seine Werbeanzeige in der Vossischen Zeitung: „Dr. der Jurisprudenz gibt Ihnen während der Beförderung Instruktionen über die Regierungsmaßnahmen zur Währungsumstellung von der Deutschen Mark zur Rentenmark.“ erregt die Aufmerksamkeit des Ullstein-Verlages, der Salomon prompt einen Posten in der Werbeabteilung anbietet. Hier kümmert er sich unter anderem um Auseinandersetzungen mit Bauern, die auf ihren Feldern Reklameschilder aufstellen, und legt sich zur Dokumentation der Streitfälle eine Kamera zu, die er in der Freizeit für kleine Reportagen nutzt. 1927 drucken verschiedene Ullstein- Zeitungen die ersten Salomon-Bilder ab. 1928 findet in Berlin ein großer Polizistenmörder-Prozeß statt. Erich Salomon versteckt seine ‚Ermanox’, eine 35mm-Spiegelreflex-Plattenkamera mit lichtstarkem Objektiv, in einem Hut und schießt aufsehenerregende Bilder, die in der ‚Berliner Illustrirten Zeitung’ erscheinen. Nur ein Jahr, nachdem Salomon zum erstenmal eine Kamera in Händen hatte, beginnt seine Karriere. Nachdem eine weitere Serie von Gerichtsphotos europaweit gedruckt wird, kündigt Salomon seine Stellung bei Ullstein und arbeitet als freier Bildjournalist.

 

   Photos Marke Salomon

Fortan reist er zu allen wichtigen internationalen Konferenzen, in den Wandelgangen des Reichstages findet man ihn ebenso wie in der Pariser Nationalversammlung. Immer sind es sein gepflegtes Auftreten, Sprachkenntnisse und die vollkommene Selbstverständlichkeit, mit der er sich auf glänzendem Parkett bewegt, die ihn zum „Schuß“ kommen lassen. Im Völkerbundpalast in Genf setzt er sich ungerührt – und unbemerkt – auf den Platz des gerade abwesenden polnischen Delegierten, während der ersten Regierungserklärung des Reichskanzlers Hermann Müller nimmt er dessen Abgeordnetenplatz ein: „Wenn man ohne formelle Erlaubnis irgendwo photographiert, kann man voraussetzen, daß jeder, der nichts damit zu tun hat, sich nicht im geringsten darum kümmern wird und daß diejenigen, die an sich befugt wären, sich darum zu kümmern, es in den meisten Fällen nicht tun werden, da sie aus der Tatsache, daß photographiert wird, schließen zu müssen glauben, daß es auch irgend jemand erlaubt haben muß.“

 

Wo er nicht hineinkommt, etwa ins Reichspräsidentenpalais beim Empfang des ägyptischen Königs, da beschafft er sich einen Fensterplatz im gegenüberliegenden Haus. Für eine Aufnahme des amerikanischen Präsidenten versteckt er die Ermanox im Blumenschmuck auf der Festtafel, bei Nachsitzungen mit schläfrigen Ministern im Smoking steht er hinter einem Paravent. In seinem Buch „Berühmte Persönlichkeiten in unbewachten Augenblicken“ erzählt er einen seiner Coups auf dem Festbankett der Royal Academy in London: „So wartete ich ruhig bis zum Abend, zog meinen Frack an und ging hin, wobei ich meinen Grundsatz, eine Stunde zu spät zu kommen, genau befolgte. Er beruht auf der Erfahrung, daß Kontrollbeamte, wenn man zu spät kommt, schon abgekämpft und daher milde gestimmt sind.“ Nachdem man ihm die Photographiererlaubnis verweigert, „that is quite impossible, that has never been done before,“ entscheidet er sich für das sofortige „Beschreiten des illegalen Weges, der diesmal zu dem Saalausgang führte, durch den die Kellner ein- und ausströmten. Neben diesem Ausgang hatte ich eine vollkommen unmotivierte Doppelgardine entdeckt, nun machte ich durch die Gardinenspalte hindurch eine Anzahl Aufnahmen. Nachdem ich mir schon wenigstens zwölf verschiedene Bilder gesichert hatte, trat ein Herr auf mich zu und fragte, was ich eigentlich da täte. Ich sagte, daß ich photographierte. „Yes, but for whom are you taking these photographs?“ fragte er mich. Um irgend etwas zu antworten, sagte ich: „For the weekly Graphic.“ – „But they haven’t asked for!“ Worauf ich mit waschechtem Erstaunen „O, haven’t they?“ hervorbrachte. Der Herr ließ mich nun einige Zeit in Ruhe, kehrte aber dann wieder und sagte: „The secretary of the academy says, that that has never been done before.“ – „That is, why I am doing it,“ entgegnete ich mit der natürlichsten Harmlosigkeit, die mir zur Verfügung stand. Der Herr konnte sich dieser Logik anscheinend nicht verschließen und verließ mich zum zweitenmal. Nach einiger Zeit kam er wieder und sagte: „Are you Dr. Erich Salomon?“ Ich bestritt nicht, der Gesuchte zu sein, worauf der Herr mir sagte, der Sekretär habe nichts dagegen, daß ich noch weiter photographierte, aber ich dürfe niemanden bitten, für mich zu posieren. Ich sagte lachend: „That’s what I never do.“

 

Längst ist aus dem gefürchteten „roi des indiscrets“ (Aristide Briand) ein gern gesehener Gast und Garant für Bedeutsamkeit geworden. Als sich das Reichskabinett anfangs der Dreißigerjahre auf einem Schiff mit Vertretern der britischen Regierung zu einer geheimen Zusammenkunft trifft, erhält Salomon die Genehmigung, mit seiner Kamera dabeizusein. „Heutzutage,“ erläutert der preußische Ministerpräsident Otto Braun die Entscheidung, „kann eine Konferenz zwar ohne Minister stattfinden, aber nicht ohne Dr. Salomon.“

 

Bei aller Kunstfertigkeit achtet Erich Salomon stets auch auf die Vermarktung seines eigenen Namens: Als erster Pressephotograph setzt er durch, daß seine Bilder grundsätzlich mit Namensangabe gedruckt werden. Das „Salomon-Bild“ wird zur Marke.

 

   Endstation Rampe

Dann kommt das Jahr 1933 und mit ihm die Machtübernahme jener unzivilisierten, braun uniformierten Bande, deren Rüpeleien Salomon kurz zuvor im Reichstag aufgenommen hatte. Am 30. Januar hält sich Erich Salomon mit seiner Frau und den beiden Söhnen bei den Schwiegereltern in Den Haag auf. Eine Rückkehr nach Berlin ist unmöglich, der „Jude Salomon“ ist zu exponiert und den neuen Herren gar zu verhaßt. Abgeschnitten von den wichtigsten Auftraggebern, dem Archiv und seinem Zuhause verfällt er in tiefe Depression und kann über Wochen nicht arbeiten. Schließlich bringt Sohn Otto die 400 wichtigsten Glasnegative nach Den Haag, von dort gelangen sie 1935 für eine Ausstellung nach London und überstehen so die Zeitläufte. Erich Salomon beginnt wieder zu arbeiten, erwägt eine Emigration in die U.S.A., reist mehrfach nach England und Schottland und bleibt schließlich doch in Den Haag. Als die Wehrmacht am 10. Mai 1940 die Niederlande besetzt, ist es für jede Ausreise zu spät. Drei Jahre können sich die Salomons verstecken, dann verrät sie ein Gasableser bei den Deutschen. Mit Ausnahme des Sohnes Otto, der seit 1935 unter dem Namen Peter Hunter in London lebt, werden alle verhaftet. Vom KZ Westerbork aus kommen die Salomons im Januar 1944 nach Theresienstadt, im Mai erreichen dann mehrere Transporte mit insgesamt 7503 Juden aus Theresienstadt die Rampe von Auschwitz. Die meisten werden sofort vergast, Erich Salomon stirbt nach Auskunft des Internationalen Roten Kreuzes am 7. Juli 1944.

 


 

 

  Zeit im Fluß 

  Die Klepsydra des Frankfurter Archäologischen Museums 

 Von Armin H. Flesch,

 veröffentlicht in KLASSIK-UHREN 4/2007

 

   Ungespülte Salatschüssel mit Löchern

Wer die gläserne, geschwungene Eingangshalle des Frankfurter Archäologischen Museums betreten hat, steht einer länglichen Glasvitrine mit mattweißem Sockel gegenüber. Das halbkugelförmige, bräunliche Gefäß darin sieht auf den ersten Blick wie eine seit längerer Zeit ungespülte Salatschüssel aus, mit einem etwa Zweicentstück großen Loch im Boden. Ein Stück vom Sperrmüll, möchte man meinen, und tatsächlich handelt es sich um ein Fundstück: Die Bronzeschüssel war, glaubt man ihrem Verkäufer, einem Frankfurter Kunst- und Münzhändler, irgendwann bei Ausbaggerungen im Rhein entdeckt worden. In den Sechzigerjahren, so geht die Geschichte weiter, kaufte sie ein norddeutscher Altmetallhändler als Bronzeschrott im Rheinland auf. Warum sie danach nicht den Weg allen Altmetalls gegangen ist, ist unbekannt. Statt dessen landete die Schüssel nach dem Tod des Schrotthändlers bei seinem Münzen sammelnden Schwiegersohn. Dieser verkaufte sie in den Achtzigerjahren an seinen Frankfurter Münzlieferanten, von welchem sie, schlußendlich, 1997 dem damaligen Frankfurter Museum für Vor- und Frühgeschichte zum Kauf angeboten wurde.

 

Der Etat des Museums hätte den Ankauf des inzwischen als einzigartige antike Wasserauslaufuhr identifizierten Fundstücks freilich nicht zugelassen. Also begann man, um Zuschüsse staatlicher und privater Stiftungen zu werben und brauchte dazu ein Gutachten über den Charakter und die Besonderheit des Objekts. Hierfür wurde Professor Dr. Ludolf von Mackensen bemüht, derselbe, den sein 1978 in der ersten Ausgabe dieses Magazins veröffentlichter Vortrag in Fachkreisen weltbekannt gemacht hatte. Die Inschriften und Skalen sowie der Vergleich mit Beschreibungen des römischen Architekten und Ingenieurs Vitruv bewiesen zweifelsfrei: Es handelte sich bei dem optisch wenig eindrucksvollen Gerät um die bislang einzige erhaltengebliebene Wasserauslaufuhr aus römischer Zeit. Drei Jahre später, im Jahr 2000, konnte sie für das Museum in der Frankfurter Karmelitergasse erworben werden.

   Klepsydra: Stechheber, Uhr und Todesanzeige 

Das altgriechische Wort Klepsydra, bestehend aus kleptein ≈ stehlen und hydor ≈ Wasser, bedeutet übersetzt „Wasserdieb“ und bezeichnete zuerst die antike Form des Stechhebers: Ein bauchiges Tongefäß, welches an seinem Boden ein feines Loch besaß und oben geschlossen war. An seiner Seite befand sich ein halbkreisförmiger Henkelgriff, der, als Röhre ausgebildet, mit dem Innern des Gefäßes in Verbindung stand. Dieser Griff besaß an seinem höchsten Punkt ein Loch, welches beim Halten mit dem Daumen abgedeckt werden konnte. Taucht man einen solchen Stechheber senkrecht in eine Schale mit Wasser, und die Öffnung oben im Griff ist unverschlossen, dann dringt die Flüssigkeit durch das Bodenloch ein. Wird das Loch im Griff mit dem Daumen verschlossen, kann anschließend der Stechheber aus der Schale gehoben werden, ohne daß das Wasser ausläuft.

 

Schon in der Antike wurde der Begriff Klepsydra auch als Gattungsbegriff für Wasseruhren verwendet. Die Übertragung des Namens vom Stechheber auf die Wasseruhr erklärt sich wohl mit dem feinen Strahl, in dem das Wasser in beiden Fällen ab- respektive zuläuft. Wasseruhren dienten, wie auch Schlamminger schreibt, in der Regel nicht der häuslichen Zeitmessung nach Stunden, sondern wurden zur Zeitzuteilung, etwa bei Gericht, verwendet. Die früheste schriftliche Erwähnung einer solchen Gerichts-Klepsydra findet sich vor fast zweieinhalb Tausend Jahren bei Aristophanes, doch die Methode der Zeitmessung mittels ein- oder auslaufenden Wassers ist wesentlich älter: Nachweislich wurden bereits im 15. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung im alten Ägypten Wasseruhren verwendet. In einigen Sprachen kommt das Wort Klepsydra bis heute vor: Im Polnischen etwa bezeichnet es sowohl eine Sanduhr wie auch eine Todesanzeige.

 

Die Frankfurter Klepsydra stammt wohl aus der mittleren Kaiserzeit, einer Epoche zwischen zweiter Hälfte des 2. Jahrhunderts und erster Hälfte des 3. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Dafür sprechen sowohl Machart und Inschrift, als auch das verwendete Material: Metallanalysen ergaben, daß die Schüssel aus einer Bronzelegierung mit 89,10-prozentigem Kupfer- und 7,88-prozentigem Zinnanteil besteht, einem zwar seltenen, aber für getriebene Gefäße in der mittleren Kaiserzeit bevorzugten Material. Die restlichen Legierungsbestandteile sind wahrscheinlich unbeabsichtigt und gehen auf die Wiederverwertung von Altmetall bei der Herstellung der Uhr zurück.

 

Ihre äußere Form ist annähernd halbkugelförmig, ihr oberer, etwa eineinhalb Zentimeter breiter Rand ist einwärts gebogen. Auffällig an diesem Rand ist ein umlaufender Kranz von kleinen Löchern, einer Perforierung nicht unähnlich. Insgesamt sind es 368 Löcher: 365 für die Tage des Jahres, eines für den alle vier Jahre hinzukommenden Schalttag sowie zwei überzählige. Diese beiden Löcher müssen kein Versehen des antiken Uhrmachers sein. Vielmehr könnte ihm eine durch vier teilbare Zahl die möglichst gleichmäßige Verteilung der Löcher erleichtert haben, ohne daß sich ihre geringe Überzahl nennenswert auf die Ablesegenauigkeit der Uhr auswirkte.

 

Über die Lochmarkierungen der beiden Tagundnachtgleichen gemessen beträgt der Durch­messer der Öffnung 35,1 Zentimeter. Bis zur Außenkante mißt die Uhr an derselben Stelle 38,9 Zentimeter, sie ist 21,2 Zentimeter hoch und wiegt 1638 Gramm. Die Wandstärke der Schüssel beträgt durchgehend etwa einen Millimeter, lediglich die äußerste Kante des einwärts gebogenen Randes ist etwas dicker.

 

Die sowohl kleinste wie auch wichtigste Öffnung der Uhr befindet sich seitlich, etwa 1,75 Zentimeter oberhalb des Bodens: Dort sitzt das etwa 0,9 Millimeter große Auslaufloch. Sein Durchmesser regelt die Auslauf­geschwindigkeit und damit den Gang der Uhr. Im Gegensatz zu allen übrigen Öffnungen der Frankfurter Klepsydra ist diese keine einfache Bohrung oder Ausdrehung. In ein größeres Loch, das bei Röntgenuntersuchungen sichtbar wurde, ist ein Goldfutter (Feingold mit dreiprozentigem Silberanteil) eingesetzt.

 

Die Verwendung eines oxydationsresistenten Edelmetall- oder Edelsteinfutters bei derartigen Uhren wird von Vitruv beschrieben. Auf der Innenseite befindet sich ein System feiner konzentrischer Linien, welche auf einer Drehbank eingearbeitet wurden. Sie bilden die Skalen zur Anzeige der Zeit. Denkt man sich diese Skalen als Zeilen, so sitzt darauf ein System von zwölf Spalten, bestehend aus aufgelöteten, zum Teil verloren gegangenen Punkten. Diese korrespondieren mit der Kalendereinteilung des oberen Randes und markieren auf den Linien die jeweiligen Monatsanfänge. 

 

Wie lang dauert eine Stunde?

 

Die Antike kannte zwei Arten der Stundenberechnung: Die Stunde als 24. Teil eines kompletten Tages von Mitternacht bis Mitternacht – die stets gleichlange, sogenannte Äquinoktialstunde, wie wir sie bis heute kennen. In der Antike wurde sie jedoch nur in wissenschaftlichen Zusammenhängen, etwa in der Astronomie, verwendet. Im Alltag hingegen war die Temporalstunde gebräuchlich: Sie bildete den zwölften Teil des hellen Tages beziehungsweise der Nacht. Naturgemäß war ihre Länge übers Jahr veränderlich, lediglich zu den beiden Tagundnachtgleichen, den Äquinoktien, entsprach sie dem 24. Teil des ganzen Tages. Nördlich des Äquators waren die Tagstunden demnach im Sommer länger, im Winter kürzer; mit den Nachtstunden verhielt es sich umgekehrt. Uhren, gleich welcher Art, können diese Schwankungen von sich aus nicht nachvollziehen. Zu einer Zeitanzeige auf Grundlage der Temporalstunden bedurfte es daher vielteiliger Skalen, welche sich außerdem an der geographische Breite ihres Aufstellungsortes orientieren mußten. Auch die Skalen der Frankfurter Klepsydra sind auf Temporalstunden ausgelegt. Wegen deren unterschiedlicher Länge verlaufen sie nicht in gerader Linie um das Innere der Uhr herum, sondern sind durchgebogen. Ihre ungewöhnlichen Teilungen eignen sich jedoch nicht für eine häusliche Zeitmessung.

 

Verwendung und Aufstellung

 

Über die genaue Verwendung der Frankfurter Klepsydra ist leider nichts bekannt, anhand der Widmungsinschrift lassen sich jedoch einige Mutmaßungen anstellen. Sie ist in die Außenseite der Schüssel eingeschlagen (punziert) und lautet: MAPIL MAPILIANUS SUPREFECTS AQUARUM DEI BORVONIS EX AERE FRACTO ET EXCITATORIAM F EX VOTO S L M – Mapilius Mapilianus, der Unterpräfekt der Wasser des Gottes Borvo, hat aus gebrochenem Metall [s. h. Altmetall; d. Verf.] auch die Signaluhr aufgrund eines Gelübdes machen lassen. Er löste [sein Gelübde] gern und nach Verdienst ein.

 

Zuerst kann mit großer Sicherheit angenommen werden, daß die Frankfurter Klepsydra aus Gallien, dem heutigen Frankreich, stammt. Darauf deutet nicht nur der aus dem Keltischen stammende Name des Stifters hin, der in Gallien mehrfach belegt ist. Auch die Gottheit, der die Uhr gewidmet wurde, weist nach Gallien: Borvo, ein keltischer Gott, wurde in römischer Interpretation mit Apoll gleichgesetzt und als Heilgott und Spender des heißen Wassers verehrt. Er taucht in einer Vielzahl von Inschriften auf, etwa in Bourbonne-les-Bains, Bourbon-Lancy, Aix-les-Bains, Entrains, Aix-en-Diois und Aix-en-Provence. Anzunehmen, die Uhr stamme aus einem dieser Heilbäder oder Heiligtümer, ist also nicht abwegig.

 

 

Skalenteilungen

Dauer

Zeit pro Teilung

1. bis 9.

4 Stunden

1/2 Stunde

9. bis 11.

2 Stunden

1 Stunde

11. bis 12.

1 1/2 Stunden

1 1/2 Stunden

12. bis Auslaufloch

4 1/2 Stunden

4 1/2 Stunden

12

12 Stunden

 

Der vermutliche Aufstellungsort und die eigenartige Teilung ihrer Skalen lassen die Annahme zu, daß die Uhr als Meß- und Kontrollinstrument zur Überwachung einer Badeordnung und der Einhaltung begrenzter Badezeiten diente. Wiewohl es keine feste, für das gesamte römische Imperium gültige Badeordnung gab, besitzen wir doch einige Überlieferungen, welche eine solche Zuordnung der Uhr plausibel erscheinen lassen. In der spanischen Bergwerksstadt Vispasca etwa war das Bad von der ersten bis siebten Tagesstunde für Frauen, darnach bis zur zweiten Nachtstunde für Männer geöffnet. Eine Badeordnung des Kaisers Hadrian für die Bäder der Stadt Rom sah vor, daß diese bis zur achten Stunde den Kranken vorbehalten blieben.

 

Aufstellung

 

Um eine ungestörte und damit möglichst präzise Funktion der Uhr zu gewährleisten, war sie gewiß nicht im Freien aufgestellt. Ein eigenes Uhrenhaus ist bei ihrer vergleichsweise geringen Größe wenig wahrscheinlich, vermutlich stand sie in einem geschlossenen Raum innerhalb einer Heiltherme. In diesem Zusammenhang verdient das bereits erwähnte Loch in der Bodenmitte Erwähnung: Es ist scharfkantig ausgeschnitten und hat einen Durchmesser von 17 Millimetern. Diese untere Öffnung war für den Betrieb der Uhr ohne Bedeutung, hier wurde wohl nur das Restwasser abgelassen. Auf ihrer Unterseite haben sich die Überreste eines weich aufgelöteten Rings erhalten. Dieser Ring bestand aus einer anderen Legierung und diente möglicherweise der Befestigung eines vielleicht eingeschraubten Verschlußdeckels. Es wäre aber auch eine andere Funktion denkbar: Die Lagerung der Uhr ist ungeklärt. Ein Dreifuß ist vorstellbar aber nicht zu belegen – es fehlen am Material der Schüssel jegliche Spuren einer eventuellen Auflage. Außerdem stellt sich die Frage, warum eine Schüssel von handlichen Maßen und handhabbarem Gewicht an ihrer Unterseite einer speziellen Reinigungsöffnung zum Ablassen des Restwassers bedarf? Es sei denn, die Uhr hätte unverrückbar auf einer Säule gestanden – mit einem Abflußrohr in deren Inneren wasserdicht verlötet. Eine derart exponierte, „würdige“ Aufstellung hätte sicherlich den Wünschen des Spenders entsprochen, der bereits durch die punzierte Weihinschrift auf seine Person hatte hinweisen lassen. Was die Frage der Gebräuchlichkeit einer solchen Konstruktion betrifft, so findet sich in Pompeji ein Handwaschbecken, welches auf die nämliche Weise aufgestellt und mit einem Abflußrohr verbunden ist.

 

Bedienung

 

Da die Frankfurter Klepsydra über keinerlei Zusatzfunktion zur Signalgebung verfügte, aber als Signaluhr verwendet wurde, ist anzunehmen, daß mit ihrer Bedienung, Wartung, und Ablesung der Aufseher des Bades, möglicherweise ein Sklave, betraut war. Bis zu welcher Stelle er das Wasser am Morgen aufzufüllen hatte, das bestimmte das jeweilige Tagesdatum. Hierzu sind in den oberen, umlaufenden Rand der Uhr die folgenden Kalenderangaben punziert:

 

IAN - K - N - ID - FEB - K - N - ID - MAR - K - N - ID - AEQ - APR - K - N - ID - MAI - K - N - ID - IUN - K - N - ID - SOL - VIII - K - IUL - K - N - ID - AUG - K - N - ID - SEP - K - N - ID - AEQ - OCT - K - N - ID - NOV - K - N - ID - DEC - K - N - ID - BREV .

 

Wie bereits erwähnt ist der Rand außerdem mit 368 Löchern versehen. Deren Anbringung war aufwendiger, als es eine bloße Strichskala gewesen wäre. Daher kann angenommen werden, daß es zu diesen Löchern auch eine Art Zeiger gab, wahrscheinlich ein feiner, der Form der Uhrenschüssel entsprechend gebogener Metallstift mit einem Haken. Diesen konnte der Aufseher täglich um ein Loch weiterhängen. Der jeweilige Kreuzungspunkt des Zeigers mit der höchsten Skalenlinie bestimmte die Füllhöhe bei Inbetriebnahme der Uhr am Morgen. Über den Zeiger die Skala anpeilend, konnte der Aufseher während des Tages das Sinken des Wasserpegels und das Verstreichen der skalierten Zeitabschnitte beobachten. Sobald der Pegel eine neue Skalenlinie erreicht hatte, begann ein neuer Abschnitt der Badeordnung, den der Sklave bekanntzugeben und zu überwachen hatte. Ein Badetag im Heiligtum des Gottes Borvo – so stellen wir uns vor – endete, sobald sich der letzte Tropfen von der goldenen Ausflußöffnung gelöst hatte. Während späte Gäste das Bad verließen, öffnete der Aufseher die Reinigungsöffnung am Boden der Uhr, um das Restwasser, welches unterhalb der Ausflußöffnung stehengeblieben war, abzulassen. Er spülte die Uhr aus, trocknete sie und verschloß sorgfältig die Reinigungsöffnung. Vielleicht hängte er den Zeiger noch auf das nächste Datum, dann war sein Arbeitstag beendet.

 

Wie kommt eine Klepsydra aus Gallien in den Rhein?

 

Die Frankfurter Klepsydra stammt, dafür sprechen alle Indizien, aus der Zeit zwischen zweiter Hälfte des 2. und erster Hälfte des 3. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Laut Angabe ihres Verkäufers, wir erinnern uns, wurde die Uhr im Rhein entdeckt, was ihrem äußeren Erhaltungszustand durchaus entspräche. Nun stellt sich die Frage, wie sie aus einem gallischen Heilbad dorthin gelangte. Wie bei vielem rund um die Geschichte der Frankfurter Klepsydra sind wir auch hier auf Spekulationen, wenn auch mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit, angewiesen: In den Jahren 275 bis 277 unserer Zeitrechnung waren die Alamannen ins römisch beherrschte Gallien eingefallen. Bei ihren Plünderungszügen durchstreiften sie auch jene Gebiete, in denen die bekannten Borvo-Heiligtümer lagen. Auf ihrem Rückzug verloren die Plünderer dann etliche ihrer Beutestücke beim Übersetzen im Rhein, wie einige Hortfunde zwischen Straßburg und Mainz belegen. Aus Sicht sowohl der römisch-gallischen Besitzer wie auch der alamannischen Diebe ein Totalverlust, aus heutiger Perspektive jedoch ein Glücksfall. Besonders reizvoll ist dabei die Vorstellung, eine Wasser­uhr habe die meisten ihrer rund 1700 Jahre ausgerechnet im Rhein verbracht – Zeit im Fluß.

 

 

Top | © Armin H. Flesch - Autor und Journalist