100 Jahre Familientradition

Wie ein mittelständisches Frankfurter Unternehmen seine Geschichte umschreibt.

 

Von Armin H. Flesch,

veröffentlicht in der FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 27.10.2015

 

Arisierung ist ein deutsches Wort. So deutsch, dass es im Duden lange Zeit nicht vorkam. In der Ausgabe von 1949 erschien lediglich das Adjektiv arisch, 1967 gesellte sich dann der Arier hinzu: „Edler, Angehöriger frühgeschichtl. Völker mit idg. Sprache; nationalsoz: Nichtjude, Angehöriger der nord. Rasse.“ Erst seit der Duden im Internet vorliegt, erfah­ren wir, was es mit dem Treiben der edlen nordischen Rasse ganz allgemein auf sich hatte: „(zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft) durch Enteig­nung oder zwangs­weisen Verkauf jüdischen Besitz in arischen Besitz überführen.“ Sieht man von der in mehr­facher Hinsicht fragwürdigen Wortwahl dieses Definitionsversuchs einmal ab, bleibt anzumerken, dass es mit der Arisierung auch nach Ende der national­sozia­listi­schen Herrschaft keineswegs sein Bewenden hatte. Bis heute wird arisiert: Die Wahrheit.

 

Alljährlich lädt die Stadt Frankfurt am Main ehemalige, zwischen 1933 und 45 verfolgte Bürger der Stadt und deren Nachkommen für eine Woche ein. Auch in diesem Jahr kamen 36 Angehörige ehemaliger Frankfurter an den Main. Unter ihnen waren Rolf Stürm aus Basel, über dessen Besuch in der Elisabethenschule die Frankfurter Rundschau berichtet hat, sowie seine amerikanischen Cousinen Nancy Ginsburg und Susan Neulist. Ihr gemeinsamer Urgroßvater Heinrich Vogel hatte 1914, kurz vor Aus­bruch des Ersten Weltkriegs, einen der ersten Zulieferer der sich rasch entwickeln­den Automobil­indu­s­trie gegründet. Nach seinem Tod ging die Firma auf die beiden Söhne Ernst und Kurt über, die 1935, unter dem zuneh­menden Druck der „Entjudung des deutschen Wirtschaftslebens“, zwei ihrer leitenden Angestellten in die Geschäfts­leitung aufnehmen mussten. Zwei Jahre später übernah­men die „arischen“ Teilhaber Hein­rich Elsen und Georg Hemer das Unter­nehmen vollstän­dig. Aus „Gebrüder Vogel“ wurde „Elsen & Hemer“; so heisst die Firma bis heute.

 

„100 Jahre Familientradition“

 

Im Sommer 2013 – während eines Familientreffens in den USA – interessiert es die Enkel der Vogel-Brüder, ob die Firma wohl noch existiert und wie man die 100jährige Firmenge­schich­te auf deren Homepage darstellen würde. Tatsächlich werden sie fündig, auf www.elsen-hemer.de gibt es sogar eine Rubrik „Historie“. Aber was Rolf Stürm und seine Verwandten dort lesen, verschlägt ihnen die Sprache: Die heutigen Eigentümer verweisen auf „100 Jahre Familientradition“, doch über die tatsächliche Gründerfamlilie und über die Umstände des Eigentümerwechsels verlieren sie kein Wort. Eine E-Mail und ein Brief an die Inhaberfamilie Elsen, in denen Rolf Stürm darum bittet, korrek­ter­weise auch die Gründer und früheren Eigentümer aus seiner Familie dort zu erwäh­nen, bleiben unbe­ant­­wortet. Lediglich das Halbwort „Familien“ verschwindet. 

 

Sigmund Freud hat den Begriff der Verdrängung geprägt: Tabuisierte, als schmerzhaft oder bedrohlich empfundene Sachverhalte werden aus der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen, nach Freuds Theorie ein unbewusster Vorgang. Im Falle von Elsen & Hemer und vieler anderer Profiteure des Naziregimes und ihrer Nachkommen geschieht die Verdrängung der eigenen „Historie“ jedoch ganz bewusst. Geschichte wird umge­schrie­­ben, ausgeklammert und zurechtgebogen, bis aus unangenehmen Wahrheiten an­genehme Lügen werden, mit denen man sich öffentlich identifizieren kann. Erlaubt ist, was gefällt.

 

„Das ist alles schon sehr lang her“

 

Nach mehrfacher Anfrage und anfänglicher Ablehnung sind die Inhaber von Elsen & Hemer bereit, ein Interview zu geben. Es dauert eineinhalb Stunden; ein Sohn und zwei Enkel des Ariseurs Heinrich Elsen wissen vieles sehr detailreich zu er­zäh­len: Dass Fir­mengründer Heinrich Vogel als Kutschenbauer begonnen und Groß­vater Elsen stets ausgefallene Krawatten und Fliegen getragen habe. Man beschreibt die freundschaft­lichen Beziehungen zu den Vogels und weiß sogar, dass Ernst ins schweize­rische Biel, Kurt zunächst nach Brüssel, dann in die USA ausgewandert sei. Man habe in der Nazizeit viel für die Vogels riskiert: Die Gross­mutter zum Beispiel habe im Büsten­halter eine Schiffs­karte nach Belgien geschmug­gelt. Ein Billet allerdings, dass man gar nicht schmuggeln musste, wie die in Amerika er­hal­ten gebliebene Ausfuhrgenehmigung belegt. Ein Le­ben voller Gefahren, erinnert sich Senior Bernhard Elsen: „Denn Sie müssen sich ja über eins im klaren sein: Juden waren diejenigen, die ins Ausland gingen, weil sie ja mussten. Sie hatten ja diesen Druck der National­sozia­li­sten im Kreuz. Aber die, die ihnen hier gehol­fen haben, die standen ja auf der viel schlech­teren Seite.“

 

Gefragt, warum sie trotz der freundschaftlichen Beziehungen so gar nichts über die Gründerfamilie der Firma auf ihrer Homepage erwähn­ten, lässt das Erinnerungs­ver­mögen schlagartig nach. Das sei alles schon sehr lang her, man wisse viel zu wenig, und bevor man etwas Falsches schreibe, schreibe man besser gar nichts. Vom Versuch der „prakti­zierenden Katholiken“ Heinrich und Auguste Elsen, im Jahr 1941 ein 4.700 Quadrat­me­ter großes Baugrundstück unweit ihres Frankfurter Privat­hauses zum Preis von 9.700 Reichsmark zu „entjuden“, wissen ihre drei Nach­kommen auch nichts. Diese Geschichte erzählt nur der notariell beglaubigte Kaufvertrag im Frank­fur­ter Institut für Stadtgeschichte.

 

Spontanes Besuchsprogramm

 

Es ist der letzte Tag von Rolf Stürm, Nacy Ginsburg und Susan Neulist in Frankfurt am Main. Vormittags treffen sie sich mit Schülern eines Gymnasiums, für den Abend steht der abschliessende Empfang der Besuchergruppe im Kaisersaal des Rathau­ses auf dem Programm. Dazwischen gibt es eine Pause von vier Stunden; die drei Enkel der Gebrüder Vogel nutzen sie für einen Besuch der Firmenzentrale von Elsen & Hemer. Sie kommen unangemeldet, aber sie haben Glück: Michael Elsen, einer der beiden Inhaber, ist anwe­send und empfängt sie nach kurzer Wartezeit im Konferenzraum. Elsen ist aufgeregt, das kann man sehen. Aus seinem Gesicht ist alles Blut gewichen, am Hals zeigen sich rote Flecken. Stürms Frage, ob denn seine E-Mail vom Vorjahr eingegangen sei, bestätigt er: „Wir haben eine E-Mail bekommen, das ist richtig.“ Warum sie nicht beant­wortet wurde, darauf geht er nicht ein. Ob denn die Vogel-Grossväter irgendwann einmal auf der Homepage erscheinen würden? „Darüber habe ich mir noch überhaupt keine Gedanken gemacht,“ antwortet Michael Elsen und sucht mühsam nach einer Erklärung: „Das ist ... vielleicht eine ... etwas ... unbe­wus­ste ... Unachtsamkeit. Keine Ahnung.“ Im weiteren Gespräch sagt er jedoch zu, diese Unachtsam­keit korrigieren zu wollen.

 

In den Rucksack hineinschauen

 

Beim Abschlussempfang im Kaisersaal des Frankfurter Rathauses hält Rolf Stürm stell­ver­tretend für die jüdische Besuchergruppe eine Rede. Er erzählt davon, dass die Gene­ration ihrer Eltern und Großeltern nie über das hatte sprechen wollen, was man ihr an­getan hatte: „Der Schmerz, die Verbitterung über die Vertreibung aus ihrer deutschen Kultur und die Scham des Überlebthabens waren so groß, dass die meisten von ihnen für den Rest ihres Lebens keine Worte finden konnten, sie zu beschreiben.“ Und Stürm versucht zu erklären, warum die Kinder und Enkel aus Deutsch­land vertriebener Juden be­suchs­weise in die frühere Heimat ihrer Familien zurückkehren: „Vielleicht, weil wir alle irgend­wann erkannt haben, dass nur die Auseinander­set­zung mit unserer Geschich­te uns frei machen kann von der Vergangenheit. Nur wenn wir in den Rucksack hinein­schauen, den wir tragen und der die Schultern unserer Eltern und Großeltern so sehr gedrückt hat, nur wenn wir wissen, was wir im Gepäck haben, können wir selbst ent­scheiden, was davon künftig noch zu uns gehören soll – und was tatsächlich vergan­g­en ist.“ Rolf Stürm erzählt auch vom nachmittäglichen Besuch bei Elsen & Hemer und freut sich über die Zusage von Michael Elsen, die Gründerfamilie Vogel künftig auf der Firmenseite zu erwähnen. Aber wer heute auf die Homepage von Elsen & Hemer geht, findet unter „Historie“ noch immer nichts anderes als den Satz: „Wir blicken auf eine über 100-jährige Tradition, die auf die Firmengrün­dung im Jahr 1914 zurück­geht.“ Auf wen diese Gründung zurückgeht und warum die Gründer das Unternehmen verkaufen mussten, diese Historie wird nicht er­zählt.



 

 

 

 

 

 

Top | © Armin H. Flesch - Autor und Journalist