Warum ist es am Rhein so schön?

Die Geschichte einer Lahnsteiner Chemiefabrik

 

Von Armin H. Flesch,

veröffentlicht unter dem Titel "Arisiert oder erworben?" in der Rhein-Zeitung vom 7.12.2015

 

 

Mit elegantem Schwung überquert die Brücke der B42 kurz hinter Oberlahnstein die Gleise der rechtsrheini­schen Bahnstrecke. Hier, direkt am Rheinufer, erstreckt sich das weitläufige Fabrikgelände der Firma Zschim­mer & Schwarz. Die meisten Gebäude sind hell und freundlich verkleidet und strahlen in der Sonne. Schräg vis-à-vis liegt Schloss Stolzenfels, der Rhein fließt breit und behäbig vorbei und die biologische Kläranlage von Zschimmer & Schwarz sorgt dafür, dass die Firmenabwässer das schöne Bild nicht trüben.

 

Dafür sorgt auch der Umgang des mittelständischen Chemieunternehmens in Familienbesitz mit seiner eigenen Geschichte. Und die ist dem Unternehmen wichtig, auf der Homepage findet man den entsprechenden Reiter ganz oben: "1894 gründeten Otto Zschimmer und Max Schwarz in Chemnitz eine Chemikalien-, Farben- und Drogengroßhandlung. Das Unternehmen entwickelte sich rasch und erfreulich gut." Chemnitz, das sich später vorübergehend Karl-Marx-Stadt nannte, liegt in Sachsen und war zwischen 1945 und 1990 kein bevorzugter Standort für familiengeführte Unternehmen. So ist leicht vorstellbar, warum sich der Hauptsitz von Zschimmer & Schwarz nicht mehr dort, sondern in Lahnstein befindet. Wann die Firma in den Westen kam, erfährt der Interessierte ebenfalls auf deren Homepage: "1939 wurde in Lahnstein am Rhein eine Chemie- und Gerbstoff­fabrik erworben. Sie bildete nach dem Krieg die Basis zum Aufbau des Hauptsitzes der heutigen Firmengruppe." Unter welchen Bedingungen diese Fabrik jedoch erworben wurde, wie sie zuvor hieß und wem sie gehörte, darüber verrät uns www.zschimmer-schwarz.com leider nichts.

 

Unter www.familienunternehmer.eu findet man im Internet die Homepage des eingetragenen Vereins gleichen Namens, der sich so hehren Werten wie Freiheit, Eigentum, Wettbewerb und Verantwortung verpflichtet fühlt. Regionalvorsitzender für Rheinhessen ist Christian Rudolf Schwarz. Der 47-Jährige ist zugleich einer von 25 Kommanditisten der Zschimmer & Schwarz Holding GmbH & Co KG. Auch er möchte die Frage, wie sein Unternehmen an den Rhein kam, lieber nicht beantworten: "Wenden Sie sich mit Ihrer Anfrage an die Geschäfts­leitung in Lahnstein."

 

Die Geschäftsleitung, namentlich Dietmar Clausen, einer der drei Geschäftsführer von Zschimmer & Schwarz, steht zu einem Interviewtermin ebenfalls nicht zur Verfügung. Die Erwähnung des ursprünglichen Namens der Lahnsteiner Fabrik, der "Flesch-Werke AG" mit Hauptsitz in Frankfurt am Main, werde auf der Homepage dem­nächst nachgeholt, der Kauf des Lahnsteiner Werks sei rechtmäßig verlaufen. Außerdem habe man 2014 eine Firmenchronik herausgegeben, in der alles korrekt dargestellt werde.

 

Einige Tage nach dem Telefonat mit Dietmar Clausen trifft ein Brief aus Lahnstein ein. Aus dem Umschlag kommen sechs fotokopierte Blätter mit dem Kapitel der Firmenchronik, das die Übernahme der Flesch-Werke beschreibt. Scheinbar ein völlig normaler Vorgang: "Die Gerbstoffwerke Carl Flesch jr. gerieten […] in wirtschaftliche Schwierigkeiten und verpfändeten 1926 ihre Aktien an ein Bankenkonsortium unter Führung der Dresdner Bank. Die Kredite konnten nicht zurückgezahlt werden, und so entschlossen sich die Banken im September 1937, die Aktien zu versteigern. Käufer war das Berliner Bankhaus Hardy & Co., das die Aktien allerdings wenige Monate später an einen Privatinvestor verkaufte."

 

Der Name des "Privatinvestors" wird jedoch ebenso wenig erwähnt wie der Umstand, dass tatsächlich zwei Herren die Flesch-Aktien für jeweils 100.000 Reichsmark übernahmen. Beim ersten handelte es sich um Carl Goetz, seit 1933 Vorstandssprecher der Dresdner Bank und ab 1936 ihr Aufsichtsratsvorsitzender. Die Dresdner Bank - Hausbank der SS und mit zwei Vorständen und einem Direktor im "Freundeskreis Reichsführer SS" vertreten - war mehr als jedes andere deutsche Geldinstitut in die Arisierung jüdischer Unternehmen verwickelt. In der Chronik von Zschimmer & Schwarz ist sie nur eine Bank, "die den Nationalsozialisten nahegestanden haben soll."

 

Im Fall der Flesch-Werke besonders nah, denn Privatinvestor Nummer zwei ist der thüringische NSDAP-Gau­wirtschaftsberater Otto Eberhardt. Die sogenannten Gauwirtschaftsberater spielten bei der Arisierung eine zen­trale Rolle, indem sie Firmendossiers anlegten, durch die Einschaltung von Justiz und Gestapo Druck auf jüdi­sche Eigentümer ausübten, von kooperierenden Gläubigerbanken Kredite kündigen ließen und nach potenziellen Käufern Ausschau hielten.

Exakt nach diesem Drehbuch verläuft auch die Arisierung im Fall der Flesch-Werke AG, wie man in alten Akten des hessischen Hauptstaatsarchivs in Wiesbaden nachlesen kann: Parallel zur Kündigung des Bankkredits wird Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzender Herbert Flesch wegen angeblicher Devisenvergehen denunziert und sitzt daraufhin für elf Monate in Gestapohaft. Sein Vater Carl Flesch, Aufsichtsratsvorsitzender der AG, wird der­weil unter Druck gesetzt, seinen Sohn aus der Geschäftsleitung zu entlassen. Nachdem dies erfolgt ist, kommt Herbert Flesch 1935 aus der Haft frei, man gibt ihm seinen Reisepass zurück und zeigt ihn und einen seiner Che­miker erneut an, diesmal wegen angeblichen Landesverrats. Um einer weiteren Inhaftierung zu entgehen, ver­lässt Flesch über Nacht Deutschland. Kurz darauf stirbt sein Vater, und die Ariseure haben freie Bahn. Einen Tag nach Herbert Fleschs Zwangsausbürgerung im Jahr 1937 werden die Aktien zunächst an Hardy & Co, eine Tochter der Dresdner Bank, verkauft und wenig später an Goetz und Eberhardt weitergereicht. Kurz darauf be­zieht Eberhardts Bruder Wilhelm in Koblenz-Oberwerth eine Villa und übernimmt die Leitung der Oberlahn­stei­ner Fabrik.

 

Die Kooperation von Carl Goetz und Otto Eberhardt ist kein Zufall, die beiden waren seit langem befreundet. Zusammen mit Fritz Sauckel, seit 1927 NSDAP-Gauleiter von Thüringen, saßen sie während des Ersten Welt­kriegs im selben französischen Kriegsgefangenenlager. Nun sitzen sie an den Schaltstellen von Staat, Partei und Wirtschaft und bilden ein in Arisierungsangelegenheiten höchst erfolgreich agierendes Trio. Über Goetz und die Er­ben Eberhardts, der im Januar 1939 bei einem Verkehrsunfall gestorben ist, gelangen die Flesch-Werke in Oberlahnstein noch im selben Jahr in den Besitz von Zschimmer & Schwarz.

 

Am 2. September 1941 nimmt die Industrie- und Handelskammer Frankfurt auf der Karteikarte der Flesch-Werke AG den letzten Eintrag vor: "Obige Firma ist laut Eintragung in das Handelsregister des Amtsgerichts Niederlahnstein unterm 19.6.1941 wie folgt geändert worden: Zschimmer & Schwarz, Chemische Fabrik und Gerbstoffwerk Oberlahnstein A.G." Der Eintrag endet mit dem Satz: "Die Überführung in arischen Besitz ist bereits vor einigen Jahren erfolgt."

 

Fragt sich, warum ausgerechnet Zschimmer & Schwarz aus dem fernen Chemnitz die Fabrik kauft? Die Fir­men­Website liefert den ersten Hinweis, alles Weitere findet man in den Landes- und Staatsarchiven in Ko­blenz und Weimar: Zschimmer & Schwarz besitzt seinerzeit eine Fabrik im thüringischen Greiz-Dölau. Werks­leiter dieses "Nationalsozialistischen Musterbetriebs" und Mitinhaber des Unternehmens ist Dr. Ing. Rudolf Friedrich Wil­helm Schwarz, NS-Parteigenosse seit 1933, Mitglied in vier Parteiorganisationen sowie ab 1936 Kreiswirt­schafts­berater der NSDAP im Landkreis Greiz.

 

Damit gehört er zum Stab Otto Eberhardts und ist unter anderem für die Erfassung all jener Unternehmen im Landkreis zuständig, die man gewinnbringend zu "entjuden" ge­denkt. Seine Informationen reicht Rudolf Schwarz an Eberhardt weiter; in umgekehrter Richtung wechselt eine hübsche, frisch arisierte Fabrik am Rhein den Besitzer, die bestens ins Unternehmensprofil von Zschimmer & Schwarz passt. Dessen ungeachtet wird Dr. Rudolf Schwarz später, bei seiner Entnazifizierung, behaupten, durch seine Parteimitgliedschaft "keinerlei Vorteile gehabt" zu haben: "Meine, wenn auch geringe Tätigkeit als Kreis­wirtschaftsberater hat mich nur noch von meiner beruflichen Arbeit abgehalten."

 

Herbert Flesch, der zunächst nach Paris, später nach Barcelona geflohen war, überlebt den Krieg im kolum­bianischen Barranquilla. Doch Verfolgung und Gestapohaft haben Spuren hinterlassen. Die Angst vor Anti­semitismus in einem südamerikanischen Land, in dem viele Deutsche leben, sitzt so tief, dass er sich katholisch taufen lässt und jeden Hinweis auf seine jüdische Herkunft vermeidet.

 

Auch in Kolumbien ist Herbert Flesch ein erfolgreicher Unternehmer; praktisch aus dem Nichts baut der stu­dierte Chemiker dort das größte Produktionsunternehmen des Landes für Farben und Lacke auf. Nach 1945 versucht er, die Rückgabe seiner Flesch-Werke-Aktien einzuklagen. Den Verlust ihres einzigen westdeutschen Werks wollen die neuen Eigentümer jedoch ebenso vermeiden wie die an der Arisierung beteiligten Banken und "Privatinvestoren" eine Entschädigungszahlung. In der Chronik von Zschimmer & Schwarz liest sich das so: "Der Rechtsanwalt von Z&S kontaktierte zu Beginn des Verfahrens alle früheren Eigentümer der Aktien. Daraufhin traten das Bankhaus Hardy & Co. sowie die Dresdner Bank dem Prozess als sogenannte Streithelfer bei und schlossen sich in vollem Umfang den Ausführungen von Z&S an."

 

Die Kooperation der geübten "Streithelfer" zahlt sich aus: Herbert Flesch, der Deutschland 1935 fluchtartig hatte verlassen müssen, kennt die Verbindungen zwischen Carl Goetz, Otto Eberhardt und Rudolf Schwarz nicht. Er kann die Machenschaften der Dresdner Bank und aller an der Arisierung beteiligten Denunzianten, Nazifunk­tio­näre und Bürokraten vor dem Landgericht Koblenz nicht beweisen und verliert das Verfahren.

 

Bis heute stützen sich das Unternehmen Zschimmer & Schwarz und sein Kommanditist Christian Rudolf Schwarz auf das Urteil von 1951 und die Behauptungen der an der Arisierung beteiligten Banken: Die Flesch-Werke waren seit den Zwanzigerjahren heruntergewirtschaftet, die Firmenleitung inkompetent und die Kredit­kündigung ein ganz normaler Vorgang. Kann das stimmen? Im historischen Archiv der einstigen Dresdner Bank in Frankfurt am Main befindet sich jedenfalls ein Dokument, dass diese Behauptung höchst unglaubwürdig er­scheinen lässt.

In einer internen Auskunft der Dresdner Bank an die Zentrale in Berlin aus dem Jahr 1933 heißt es über die Flesch-Werke unter anderem: "Die Leitung der Firma gilt allgemein als sehr rührig und geschickt. Wir selbst unterhalten mit der Gesellschaft seit Jahren eine ausgedehnte Geschäftsverbindung und glauben, dass die Firma für die im Rahmen ihres Geschäftsumfangs beanspruchten Kredite als gut zu betrachten ist." Klingt das nach einem seit Jahren unsicheren Kreditnehmer, den man schnellstens zwangsversteigern sollte? Oder doch eher nach einem Unternehmen, das man arisieren und mit Gewinn weiterverkaufen könnte?

 

 

Epilog

 

Herbert Flesch wird es erst 1974 gelingen, vor einem deutschen Gericht recht zu bekommen. Der Bundesgerichtshof hebt alle früherenUrteile zur Wiedergutmachung des gegen ihn verübten staatlichen Unrechts auf und erkennt ihm rückwirkend eine Rente zu. Doch das Verfahren zur Rückerstattung seiner Fabrik kann er nicht mehr neu aufnehmen. 1979 stirbt Herbert Flesch 89-jährig im spanischen Barcelona.

 

Sein jüngster Sohn Gerhard erlebte die Flucht aus Deutschland als Jugendlicher; ein regulärer Schulabschluss und ein Studium blieben ihm verwehrt. Er lebt 96-jährig noch immer in Kolumbien, finanziell unterstützt durch seine drei Söhne. Bis heute fällt es ihm schwer, über die Schrecken der Vergangenheit zu sprechen.

 

Carl Goetz, den die Amerikaner von April ’46 bis Dezember ’47 inhaftiert hatten, gelangt nach Gründung der Bundesrepublik schnell zu altem Einfluss. 1952 wird er Aufsichtsratsvorsitzender der Rhein-Ruhr Bank AG, einem der Nachfolgeinstitute der nach dem Krieg zerschlagenen Dresdner Bank. Nach deren erneutem Zusammenschluss im Jahr 1957 ist Carl Goetz ihr Aufsichtsratsvorsitzender, schließlich sogar „Ehrenvorsitzender“. Auch dem Aufsichtsrat der Adlerwerke sitzt er wieder vor. Er wird mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband, einem der höchsten Orden der Bundesrepublik, ausgezeichnet und stirbt hochgeehrt 1965 in Essen.

 

Rudolf Schwarz, der einstige NSDAP-Kreiswirtschaftsberater, kehrt nach kurzer Kriegsgefangenschaft 1945 nicht mehr nach Greiz oder Chemnitz zurück, sondern geht direkt nach Oberlahnstein. Dort arbeitet er am Aufbau der Firma Zschimmer & Schwarz im Westen. Wegen seiner Nazi-Vergangenheit tritt er offiziell in die zweite Reihe zurück und fungiert zunächst als einfacher Angestellter.

 

Sein Vater, Firmenchef Max Schwarz mit der NSDAP-Mitgliedsnummer 4291298, bekommt das Bundesverdienstkreuz und wird Ehrenbürger von Oberlahnstein. Die Straße, an der die arisierten ehemaligen Flesch-Werke liegen, trägt heute seinen Namen.

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  Arisierung nach Drehbuch

1937 wurde die Flesch-Werke AG, ein Frankfurter Chemieunternehmen und eine von rund 100.000 deutschen Firmen in jüdischem Besitz, „arisiert“. Nachfahrin Patrice Flesch folgt den Spuren ih­rer Familie und eines nie gesühnten, nie restituierten Verbrechens.

 

Von Armin H. Flesch,

veröffentlicht in der FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 7.6.2016

 

 

Den Schriftzug ADLERWERKE kann man schon von weitem lesen. In großen weißblauen Lettern steht der Name des ehemaligen Zweirad-, Automobil- und Büromaschinen-Her­stellers auf dem Dach eines alten Backsteingebäudes im Frankfurter Gallusviertel. Den Namen „Carl Flesch jun. Gerbstoffwerke“ sucht man jedoch vergebens. Nachdem man hinter der Galluswarte von der Mainzer Landstraße nach links auf die Kleyerstraße ab­gebogen ist, müsste man ihn eigentlich finden, irgendwo auf der lin­ken Seite zwi­schen den beiden Adler-Fabriken I und II. Doch genau diese Lage sollte dem Unter­neh­men, das seit den Zwanzigerjahren als „Flesch-Werke AG“ firmierte, vor rund 80 Jahren zum Ver­hängnis werden. Unter anderem.

 

Grüner Rasen bedeckt die Vergangenheit

 

Am 21. Mai 2016 fährt Patrice Flesch die Kleyerstraße entlang. Ihr Großvater, von seinem Büro in der Jung­hofstraße kommend, wird sie ebenfalls oft gefahren sein. Doch hinter dem Gebäude mit dem Adler-Schriftzug beginnen heute moderne, freundliche Wohnblocks, die das einstige Industriegebiet nicht mehr erahnen lassen. Und mittendrin, genau dort, wo einmal das schmale, langestreckte Areal der Flesch-Werke war, stehen junge Bäume um einen frisch ausgesäten Ra­sen herum. An seinem Ende umgrenzen hohe Zäune einen Ballspielplatz. Wie anders muss es hier vor 82 Jahren aus­gesehen haben.

 

Wir schreiben das Jahr 1934. Die „Adlerwerke vormals Heinrich Kleyer Aktiengesell­schaft“, so der offizielle Name, haben schon seit langem ein Auge auf das Grundstück zwischen ihren beiden Fabriken geworfen. Es würde einer Erweiterung genügend Raum und Adler endlich die Möglich­keit bieten, seine beiden Werkshälften zu vereinen. Aber die dort ansässigen Firmen stehen dem im Wege. Eine davon ist die Flesch-Werke AG mit ihrem Gründer und Aufsichtsratsvorsitzenden Carl Flesch jun. und seinem Sohn Herbert als Vorstandschef. Die Fleschs sind Juden.

 

Der feine Herr Goetz

 

Doch im Sommer 1934 haben sich die Zeiten für jüdische Unternehmer gründlich geän­dert. Ein neuer Wind weht seit einem Jahr im Land, und viele haben ihr Mäntelchen be­reits hin­einge­hängt. Carl Goetz zum Beispiel: Der feine Herr mit Knebelbart und Hom­burg-Hut ist Chef der Dresdner Bank, der „Hausbank der SS“, und hat sein Büro in Berlin. Dort zer­bricht er sich seinen überaus gescheiten Kopf unter anderem darüber, wie die Dresd­ner Bank an der offiziell verord­neten „Entjudung des deutschen Wirt­schafts­le­bens“ mög­lichst viel verdienen könnte.

 

Geboren wurde Herr Goetz in Frankfurt und ist mit der Stadt am Main innig verbun­den. Er ist Aufsichtsratsvorsitzender der Adlerwerke, und denen wird er einen Gefallen tun. Um nämlich die störrischen Firmeneigentümer der Flesch-Werke zur Auf­gabe ihrer Fa­brik an der Kleyerstra­ße zu bewegen, hat er genau den passenden Hebel zur Hand: Die Kreditkündigung. Sie ist die Allzweckwaffe der Dresdner Bank bei der Schnäpp­­­chenjagd auf jüdisches Eigentum. „Arisie­rung“ nennt man das im Jargon der Zeit.

 

Die Flesch-Werke bedienen einen Bankkredit eines internationalen Banken-Kon­sorti­ums, dem die Dresdner Bank vorsitzt. Schwierig­keiten hatten die Kreditgeber mit den Fleschs bislang kei­ne. „Die Leitung der Firma gilt allgemein als sehr rührig und ge­schickt,“ heißt es 1933 in einer internen Auskunft der kreditführenden Frankfurter Dresd­ner-Bank-Filiale an ihre Berliner Zen­trale. „Wir selbst unterhalten mit der Gesell­schaft seit Jahren eine ausgedehnte Geschäfts­ver­bin­dung und glau­ben, dass die Firma für die im Rahmen ihres Geschäftsumfangs bean­spruch­ten Kre­dite als gut zu betrachten ist.“

 

In normalen Zeiten gäbe es also für eine Kreditkündigung keinen Anlass. Doch für Carl Goetz im Jahr 1934 gibt es gleich drei: Die Eigentümer sind Juden und damit praktisch wehrlos. Die Frank­­furter Fabrik könnte endlich den Adlerwerken zufallen. Und an der Verwer­tung des rest­lichen Unternehmens, vor allem einer Gerbstoff-Fabrik in Oberlahnstein am Rhein, könnte Herr Goetz sich nicht nur ganz persönlich bereichern, sondern nebenbei noch seine ohnedies exzel­lenten Verbindung­en zur Naziprominenz vertiefen.

 

Arisierung nach Drehbuch

 

Was folgt, ist eine Arisierung nach Drehbuch. In den Akten des Hessischen Haupt­staatsarchivs in Wiesbaden kann man es nachlesen: Parallel zur Kündigung des Bank­kredits wird der Vorstands­vor­­sit­zende der Flesch-Werke, Herbert Flesch, wegen angeblicher Devisen­ver­gehen denunziert und sitzt darauf­hin für elf Mo­nate in Gestapo-Haft. Sein Vater Carl Flesch jun., Aufsichtsrats­vor­sitzender der AG, wird der­weil unter Druck gesetzt, seinen Soh­n aus der Ge­­schäfts­leitung zu ent­lassen. Nach­dem dies erfolgt ist, kommt Her­bert Flesch aus der Haft frei, man gibt ihm sei­nen Rei­sepass zurück und zeig­t ihn und einen seiner Chemi­ker sogleich er­neut an, diesmal we­gen angebli­chen Landes­ver­rats. Um einer weite­ren Inhaf­tierung zu ent­ge­hen, verlässt Flesch über Nacht Deutsch­land. Kurz darauf stirbt sein Vater, und die Ari­seure ha­ben freie Bahn.

 

Einen Tag nach Her­bert Fleschs Zwangsausbürgerung im Jahr 1937 werden die Aktien zunächst an Har­dy & Co, eine Tochter der Dresdner Bank, verkauft. Die Frankfurter Fa­brik geht wie ge­plant an Adler, und den Rest teilt sich Carl Goetz mit dem NSDAP-Gau­wirtschaftsberater von Thüringen, Otto Eberhardt. Die sogenann­ten Gau­wirt­schafts­­­berater spielen bei der Arisierung eine zen­trale Rolle, in­dem sie Fir­mendossiers anle­gen, durch die Einschaltung von Ju­s­tiz und Gestapo Druck auf jüdische Eigentümer aus­üben, von kooperierenden Gläubi­ger­banken Kredite kündigen lassen und nach po­ten­ti­ellen Käufern Ausschau halten. Alles wie bei den Flesch-Wer­ken.

 

Alte Kameraden

 

Die Kooperation von Carl Goetz und Otto Eberhardt ist kein Zufall, die beiden sind seit langem befreundet. Zusammen mit Fritz Sauckel, NSDAP-Gauleiter und Reichsstatt­hal­ter von Thü­rin­­gen, saßen sie während des Ersten Weltkriegs im selben französischen Kriegs­gefang­en­en­­lager. Nun sitzen sie an den Schaltstellen von Staat, Partei und Wirt­schaft und bil­den ein in Arisierung­s­-Angelegenheiten höchst erfolgreich agierendes Trio. Über Goetz und die Erben Eberhardts, der im Januar 1939 bei einem Verkehrsunfall ge­stor­ben ist, gelangen die Flesch-Werke in Oberlahn­stein schließlich in den Besitz des säch­sischen Chemieunternehmens Zschim­­mer & Schwarz. Vermittler des Geschäfts ist Dr. Walther Schieber, der Stellvertreter und Nachfolger Otto Eber­hardts als NS-Partei- und Wirtschafts­funk­tionär.

 

Am 2. September 1941 nimmt die Industrie- und Handelskammer Frankfurt auf der Karteikarte der Flesch-Werke AG den letzten Eintrag vor: „Obige Firma ist laut Eintra­gung in das Handels­register des Amtsgerichts Niederlahnstein unterm 19.6.1941 wie folgt geändert worden: Zschim­mer & Schwarz, Chemische Fabrik und Gerbstoffwerk Oberlahnstein A.G.“ Der Eintrag endet mit dem Satz: „Die Überführung in arischen Besitz ist bereits vor einigen Jahren erfolgt.“

 

Sightseeingtour durch Frankfurt

 

75 Jahre später ist Patrice Flesch in Frankfurt am Main unterwegs. Ihre stundenlange Fahrt geht vom Gutleutviertel über Westend und Ostend bis zum Südbahnhof in Sachsenhausen. Immer wie­der steigt die ehemalige Berufsfotografin aus dem Auto und fotografiert Häuserfassaden. Doch ihre Sightseeingtour gilt nicht den Sehenswürdigkeiten der Stadt, und die Adressen stehen nicht im Baedeker. In den Altakten der Dresdner Bank und den Wiedergutmachungsanträgen von Her­bert Flesch sind sie aufgelistet: lauter stattliche Wohnhäuser, Teil der Arisierungsbeute der Dresdner Bank. Nachdem die Bank sie als Kreditsicher­heit in Besitz genommen hatte und 1936 zu verwerten begann, wurden sie sämtlich von Frankfurter Käufern erworben.

 

Fragt sich, warum der Käufer der Oberlahnsteiner Fabrik ausgerechnet aus dem fernen Chem­nitz kommt? Geographisch näher gelegene Kaufinteressenten hätte es sicherlich gege­ben. Die Firmen-Website von Zschimmer & Schwarz, in deren Besitz das Werk bis heute ist, lie­fert den ersten Hinweis. Alles Weitere findet man in den Landes- und Staatsarchiven in Kob­lenz und Wie­mar: Zschim­mer & Schwarz be­sitzt sei­ner­zeit eine Fabrik im thürin­gischen Greiz-Dölau. Werks­leiter dieses „Natio­nal­­sozia­listischen Musterbe­triebs“ und Mit­inhaber des Unternehmens ist Dr. ing. Rudolf Fried­rich Wil­helm Schwarz, NS-Parteige­nos­se seit 1933, Mitglied in vier Par­tei­orga­nisa­tionen sowie ab 1936 Kreiswirt­schafts­­berater der NSDAP im Landkreis Greiz. Damit gehört er zum Stab von Otto Eber­hardt und Walther Schieber und ist unter anderem für die Er­fas­sung all jener Unter­neh­men im Land­­kreis zuständig, die sich gewinnbringend „entju­den“ las­sen.

 

Seine In­formati­o­nen reich­t Rudolf Schwarz an Walther Schieber, dieser an Otto Eber­hardt weiter. In umgekehrter Rich­tung wech­­selt 1939 eine hübsche, frisch arisierte Fabrik am Rhein den Besitzer, die bestens ins Unter­neh­­mens­profil von Zschimmer & Schwarz passt. All dessen unge­achtet wird Dr. Rudolf Schwarz später, bei seiner Entnazi­fizierung, behaup­ten, durch seine Par­teimit­glied­schaft „keiner­lei Vor­teile gehabt“ zu haben: „Meine, wenn auch geringe Tätigkeit als Kreiswirt­schafts­berater hat mich nur noch von meiner beruf­lichen Arbeit abgehalten.“

 

Jüdische Herkunft verschwiegen

 

Am vorletzten Tag ihres Frankfurt-Aufenthalts steht Patrice Flesch vor Schülern der Wöhler­Schule. Dort, noch am alten Standort im Westend, war auch ihr Vater Peter Flesch bis 1934 Schüler gewesen. Patrice erzählt den Jugendlichen, die so alt sind wie ihr Vater damals, dass sie erst mit 50 Jahren durch eigene Recherchen von ihren jüdischen Wurzeln erfuhr. Ihr Vater, der nach seiner Flucht zunächst in New York gelebt hatte, war Amerikaner geworden, zum Protes­tan­tismus übergetreten und verschwieg zeitlebens seine Herkunft oder die Ver­folgung der Fa­milie in Deutsch­land. Bis heute fällt es der schlanken, lebhaften Frau schwer, sein Verhalten zu verstehen: „Er war nicht bereit, mit mir darüber zu reden, und bestritt kategorisch, Jude zu sein. Als ich nach seinem Tod seine Wohnung aufgelöst habe, konnte ich nichts über seine Herkunft oder seine Vergangenheit in Frankfurt finden. Er hatte alle Spuren seines frühe­ren Lebens ver­nichtet.“ Ob sie denn wisse, warum er das tat, fragen die Schüler. Hier ist Patrice auf Vermutung­en angewiesen: „Sicherlich waren die Erfahrungen als Jude in der NS-Zeit für einen Jugendlichen besonders traumatisierend. Bestimmt wollte er so etwas nie wieder erleben – und ja, vielleicht wollte er seine Tochter vor diesem Schicksal bewahren.“

 

Herbert Flesch, dessen Schwester und Schwager 1944 in Auschwitz ermordet wurden, überlebt den Krieg im kolumbianischen Barranquilla, fernab von Deutsch­­land und seinen Ver­nich­tungs­lagern. Doch Verfolgung, Enteignung und Gestapohaft haben Spuren hinterlassen. Auch bei ihm sitzt die Angst vor Antise­mi­tismus so tief, dass er sich katholisch taufen lässt und gleichfalls je­den Hin­weis auf seine jüdi­sche Identität vermeidet.

  

Nach 1945 versucht er, die Rückgabe seiner Flesch-Werke-Aktien von Zschimmer & Schwarz einzukla­gen. Den Ver­lust ihres einzigen west­deutschen Werks wollen die neuen Eigentümer je­doch eben­so vermeiden wie die an der Arisierung beteiligten Banken und „Privatinvestoren“ eine Ent­­schä­di­gungs­­zah­lung. In der 2014 erschienenen Firmenchro­nik von Zschimmer & Schwarz liest sich das so: „Der Rechts­anwalt von Z&S kontaktierte zu Beginn des Verfah­rens alle [sic!] früheren Eigen­tümer der Aktien. Daraufhin traten das Bankhaus Hardy & Co. sowie die Dresdner Bank dem Pro­zess als sogenannte Streithelfer bei und schlos­sen sich in vollem Umfang den Aus­füh­rungen von Z&S an.“

 

Ein ganz normaler Vorgang?

 

Die Koop­e­ration der „Streithelfer“ zahlt sich aus: Herbert Flesch, der Deutsch­land 1935 flucht­artig hatte verlassen müs­sen, kennt die Ver­bindungen zwischen Carl Goetz, Otto Eberhardt und Rudolf Schwarz nicht. Er kann die Machen­­schaf­ten der Dresdner Bank und aller an der Ari­sie­rung seiner Firma beteiligten Denun­zian­ten, Nazi-Funktionäre und Bürokraten vor dem Land­ge­richt Koblenz nicht be­wei­sen und verliert das Verfahren. Bis heute stützen sich die Inha­ber von Zschimmer & Schwarz, namentlich deren Vertreter Christian Rudolf Schwarz, auf das Urteil von 1951 und die Behauptungen der an der Ari­sie­rung be­teiligten Banken: Die Flesch-Werke seien herunter­ge­wirt­schaf­tet gewesen, die Maschi­nen veral­tet, die Firmen­leitung inkompetent und die Kreditkündigung ein ganz normaler Vor­gang. Kann das stimmen?

 

Im Historischen Archiv der einstigen Dresdner Bank in Frankfurt am Main befindet sich jeden­falls ein Dokument, dass diese Behauptung höchst unglaubwürdig erscheinen lässt. Es ist jene oben zitierte interne Auskunft der Dresdner Bank zur Bonität der Flesch-Wer­­ke und ihrer Eigen­tümer. Klingt diese rundweg positive Beurteilung nach einem seit Jahren unsicheren Kredit­neh­mer, den man schnellstens zwangsversteigern sollte? Oder doch eher nach einem Unternehmen, das man arisieren und mit gutem Gewinn weiter­ver­kaufen könnte?

 

Gegen eine heruntergewirtschaftete Fabrik ohne substantiellen Wert sprechen auch die Beträge, die den Ariseuren erster und zweiter Hand die Flesch-Werke wert waren: Goetz und Eberhardt zahlten mit rund 300.000,- Reichs­mark das andert­halb­fache des Nomi­nal­­werts aller Flesch-Ak­tien an die Hardy Bank. Otto Eberhardt überwies seinem „Freund“ Carl Goetz zu­sätz­lich 14.800,- Reichsmark für die Vermittlung des Ge­schäfts. Zschimmer & Schwarz nahm für den Kauf sogar einen Kredit von 400.000,- Reichs­mark auf – selbstredend bei der Dresdner Bank. Schließlich wechselte die Fa­brik am Rhein für 440.000,- Reichsmark den Besitzer. Wer gibt soviel Geld für veraltete Maschi­nen und verrottete Gebäude her?

 

Epilog

 

Herbert Flesch wird es erst 1974 gelingen, vor einem deut­schen Ge­richt Recht zu bekommen. Der Bundesgerichtshof hebt alle früheren Urteile zur Wiedergutmachung des gegen ihn verübten staatlichen Unrechts auf und erkennt ihm rückwirkend eine Rente zu. Doch das Verfahren zur Rückerstattung seiner Fabrik kann er nicht mehr neu aufnehmen. 1979 stirbt Herbert Flesch 89jährig im spanischen Barcelona. Sein jüngster Sohn Gerhard erlebte die Flucht aus Deutschland als Jugendlicher; ein regulärer Schulabschluss und ein Studi­um blieben ihm verwehrt. Er lebt 96jährig noch immer in Kolumbien, finanziell unterstützt durch seine drei Sühne. Bis heute fällt es ihm schwer, über die Schrecken der Vergangenheit zu sprechen.

  

Carl Goetz, den die Amerikaner von April ’46 bis Dezember ’47 inhaftiert hatten, gelangt nach Gründung der Bundesrepublik schnell zu altem Einfluss. 1952 wird er Aufsichts­rats­vorsitzender der Rhein-Ruhr Bank AG, einem der Nachfolgeinstitute der nach dem Krieg zerschlagenen Dresd­­ner Bank. Nach deren erneutem Zusammen­schluss im Jahr 1957 ist Carl Goetz ihr Auf­sichts­ratsvorsitzender, schließlich sogar „Ehren­vorsit­zen­der“. Auch dem Aufsichtsrat der Adler­werke sitzt er wieder vor. Er wird mit dem Großen Ver­dienst­kreuz mit Stern und Schul­­ter­­band, einem der höch­sten Orden der Bundesrepublik, ausge­zeich­net und stirbt hochge­ehrt 1965 in Essen.

 

Rudolf Schwarz, der einstige NSDAP-Kreiswirt­schaftsbera­ter, kehrt nach kurzer Kriegsge­fang­enschaft 1945 nicht mehr nach Greiz oder Chemnitz zu­rück, sondern geht direkt nach Ober­lahn­stein. Dort arbeitet er am Aufbau der Firma Zschim­mer & Schwarz im Westen. Wegen seiner Nazi-Vergangenheit tritt er offiziell in die zweite Reihe zurück und fungiert zunächst als einfa­cher Angestellter. Sein Vater, Firmenchef Max Schwarz, NSDAP-Mitgliedsnummer 4291298, bekommt das Bundesverdienstkreuz und wird Ehrenbür­ger von Oberlahnstein. Die Straße, an der die arisierten ehemaligen Flesch-Werke lie­gen, trägt heu­te seinen Namen.

 

Und Patrice, die Enkelin von Herbert Flesch, die sich auf die Suche nach den Spuren ihrer Familie begeben hat? Sie steht am 22. Mai 2016 vor dem Tor der Oberlahnsteiner Fabrik von Zschimmer & Schwarz und macht Fotos. Doch das Werk, das eigentlich ihrer Familie gehören sollte, darf sie nicht betreten.

 

 

 

 

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